David Fliri (Hg.): Albert Jäger (1801-1891) "Erinnerungen aus meinem Leben". Ein österreichischer Historiker als Chronist seiner selbst (= Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 19), Wien: Böhlau 2023, 492 S., ISBN 978-3-205-21772-5, EUR 95,00
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Autobiographische Zeugnisse von Historikern des 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum liegen gewiss nicht in großer Zahl im Druck vor; Alfred von Arneths zweibändige Lebenserinnerungen (1893) wären hier beispielsweise anzuführen oder auch Georg Gottfried Gervinus' Rückblick auf sein (turbulentes) Leben (1860). Im Vergleich mit solchen reflektierten oder auch kämpferischen Retrospektiven sind die hier anzuzeigenden "Erinnerungen" des österreichischen Historikers Albert Jäger freilich von bescheidenerem Gewicht - obwohl es dem annähernd 500 Seiten starken Band an "Gewicht", also an "Masse", nicht gerade mangelt.
Jäger, aus einem Bergbaustädtchen im mittleren Unterinntal gebürtig, dann aber in Bozen aufgewachsen, gelangte durch die Vermittlung eines Franziskaners aufs Gymnasium und trat von dort aus 1825 in den Benediktinerorden ein, der ihn in das Gebirgskloster Marienberg aufnahm und ihn nach dem theologischen "Grundstudium" rasch im schulischen Bereich einsetzte. 1841 wurde Jäger "beurlaubt", um eine Hofmeister- und Hauslehrerstelle bei einem regionalen Adligen, einem Gouverneur Tirols, zu übernehmen, die ihm immerhin die Zeit ließ, eine erste Monographie über den bayerisch-französischen Einfall in Tirol im Jahr 1703 zu schreiben, die ihm, dem Unpromovierten, die Chance eröffnete, eine Supplenzstelle an der Universität Innsbruck zu übernehmen und ihm die Ehre zuteilwerden ließ, an der Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien aktiv beteiligt zu werden. Nach den in Tirol besonders spürbaren Wirren des Revolutionsjahrs 1848, in dem er auch eine (bescheidene) politische Funktion übernahm, von seinem Orden an eine Schule in Meran zurückbeordert, wurde er 1851 auf die neugeschaffene Lehrkanzel für Österreichische Geschichte an der Universität Wien berufen. Um zu verhindern, dass ihn sein Orden von dort unvermutet wieder abberief, machte das freilich seine Entlassung aus dem Benediktinerorden erforderlich, die vom Heiligen Stuhl in Rom vollzogen wurde. In Wien war Jäger fortan als Ordinarius für sein Fachgebiet tätig und zugleich als eine Art Gründungsdirektor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, wo eine ganze Reihe später hochberühmter Universitätsprofessoren durch ihn ihre (hilfswissenschaftliche) Ausbildung erhielt. Nachdem er die höchsten akademischen Ämter der Wiener Universität bekleidet hatte und in ihrem Gefolge auch in den Tiroler Landtag gewählt und von diesem in das Abgeordnetenhaus des Reichsrats entsandt worden war, zog sich das Akademiemitglied seit 1869 mehr und mehr in die Forschung zurück, die er nun wieder von Innsbruck aus betrieb und die in eine Fülle von (quellenorientierten, aber nicht immer quellenkritischen) Studien und Editionen zur Tiroler Geschichte vornehmlich des Spätmittelalters und der Frühneuzeit mündete.
Der Memoirenschreiber, aus kleinen sozialen Verhältnissen aufgestiegen, war ein extrem auf seinen guten Ruf bedachter, jede mögliche Niederlage scheuender Mann, der nicht zufällig den "Concours" für eine Stelle an der Innsbrucker Universität verweigerte (vgl. das Zitat 102), der sich ständig verfolgt wähnte, dessen höchstes Glück darin bestand, dass in seinem Dekanat und seinem Rektorat "nichts passierte", der sich in seinen Aufzeichnungen regelmäßig mit "meine Wenigkeit", "meine Unbedeutendheit" vorstellte, der gleichwohl mit einem beachtlichen Selbstbewusstsein auftrat, das ihm wahrscheinlich in den Jahren seiner Tätigkeit für den Grafen Brandis zugewachsen war. Von den großen Historikern seiner Epoche blieb er dann aber doch um Längen entfernt; kein Zufall deswegen auch, dass er - zum Beispiel - mit keinem deutschen Historiker irgendeinen Kontakt gepflegt hat.
Die Edition der (bisher mit Ausnahme eines winzig kleinen Ausschnitts unveröffentlichten) "Erinnerungen" beruht auf der aus zwei dicken Quartbänden bestehenden, im Marienberger Stiftsarchiv befindlichen Handschrift, die, zwischen 1884 und 1885 zu Papier gebracht, freilich ihre Eigenheiten besitzt: Prall angereichert mit Dokumenten - Briefen, amtlichen Dokumenten, Sitzungsprotokollen, Zeitungsausschnitten, Tagebuchnotizen, die Jäger nicht mehr aufzulösen vermochte - , mit zahllosen in den Text integrierten Literaturangaben und zudem mit unglaublichen 83 Beilagen ausgestattet, von denen der Herausgeber immerhin sechs auch im Volltext anschließt (400-413), ist die Lektüre eher ein hartes Brot als ein Vergnügen, weil der Verfasser, letztlich ja ohne die üblichen Qualifikationen in seine akademischen Ämter gelangt, nicht die Gabe hatte, Quellen und Erlebnisse so zu verdichten, dass sie sich dem Zustand der Leserfreundlichkeit näherten. Zudem beschreitet der Autor langatmig viele überflüssige Nebenwege (z. B. 90-95) und geht rein annalistisch vor, von Jahr zu Jahr springend, wobei seine Schwerpunkte die Ordensangelegenheiten, die turbulenten Monate des Revolutionsjahrs 1848 in Tirol und dann seine Wiener Jahre bilden. Wenn man sich die Mühe macht, lassen sich immerhin einige kulturhistorisch reizvolle Details finden, so etwa das offenbar verbreitete Gerücht, die Eidgenossen könnten (1848) in Tirol eindringen (118) oder die in Wien anscheinend gängige Praxis, dass Mieter ihre (gusseisernen) Öfen mitzubringen hatten (296f.).
Gegen die Editionstechnik lässt sich wenig einwenden. Ob der Herausgeber, der auf dem Titelblatt aber nicht als solcher, sondern als Verfasser aufscheint, nicht doch ein wenig des Guten zu viel getan hat, wenn er (31) Städte wie Wien, Innsbruck oder Bozen oder den Gardasee (38: Gewässer in Norditalien) mit erläuternden Fußnoten bedachte?
Wissenschaftsgeschichtlich ist die Edition allenfalls deswegen von Interesse, weil sie einiges Licht auf die Gründungs- und Frühgeschichte der Wiener Akademie und auf die Strukturen und den Lehrkörper der Philosophischen Fakultät und des Historischen "Seminars" der Universität in den 1850er und 1860er Jahren wirft und die Frühgeschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung beleuchtet. Schon die Nacherzählung von Jägers Mitarbeit in den vielen staatlichen und universitären Kommissionen ermüdet eher, als dass sie wesentliche Erkenntnisgewinne erzielte. Und das gilt erst recht für seine breit referierten öffentlichen Vorträge, die allenfalls noch für einen Lokalhistoriker von Interesse sein mögen. Für die Prosopographie des Tiroler Ordenswesens sind die Biogramme (Anhang III) hilfreich.
Heinz Duchhardt