Jörg van Norden / Lale Yildirim (Hgg.): Historische Erfahrung (= Geschichtsdidaktik Theoretisch; Bd. 1), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, 310 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1390-2, EUR 38,00
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Der Band versammelt Beiträge, die auf einer Tagung des geschichtsdidaktischen Arbeitskreises "Theorie" präsentiert worden sind, bei der es darum ging zu konturieren, was unter (historischer) Erfahrung in geschichtsdidaktischen Kontexten zu verstehen ist. Dieses Vorhaben hat innovativen Charakter, denn obwohl auf Erfahrungen immer wieder Bezug genommen wird, wurden ihnen in der Geschichtsdidaktik bisher nur wenige theoretische Überlegungen zuteil. Bei diesen Voraussetzungen ist es nicht überraschend, dass im Vorwort angekündigt wird, dass das Gesamtbild durch die Beiträge "vielfältiger" geworden sei. Bemerkenswert ist allerdings, dass Sabrina Schmitz-Zerres und Frank Sobich in einem kleinen Beitrag zu Beginn des Bandes ein Plakat beschreiben können, das als anschauliches Zwischenergebnis auf der Tagung entstanden ist.
Die verschiedenen Positionen der Beteiligten an der Tagung haben sich zumindest im mündlichen Austausch offenbar einander angenähert, so dass sich "eine Einigung auf einen Erfahrungsbegriff abzeichnete" (21). Dieser geht vom "Erlebnis" aus, das bezeichnet, was einer Person passiert ist. Viele Erlebnisse werden jedoch gar nicht weiter beachtet, denn nur diejenigen, die erinnert und gedeutet werden, werden zur "Erfahrung". Diese Erfahrung wiederum kann durch Reflexion laufend verändert werden. Es ist damit zu rechnen, dass dieser Ausgangspunkt auch über den Kreis der an der Tagung Beteiligten in der Disziplin der Geschichtsdidaktik insgesamt als plausibel wahrgenommen werden wird. Schmitz-Zerres und Sobich geben dann noch beispielhaft kurze Hinweise, in welche Richtungen weitergedacht werden könnte, von denen hervorzuheben ist, dass das menschliche Denken nicht auf kognitiv-rationale Elemente reduziert werden kann. Besonders anschaulich hat dies kürzlich der Psychiater Frank Urbaniok für ein breites Publikum ausgearbeitet. [1] Eine andere Erweiterung wäre die Frage, ob die Erlebnisse auch durch die Beschäftigung mit den Erlebnissen anderer zum Beispiel mit der Lektüre von Darstellungen und Quellen gegeben sein können. So hatte Paul Veyne in einer Studie zur Geschichtsschreibung die professionelle Erfahrung als das angesehen, "was man für die berühmte Methode der Geschichte hält." [2] Ein Gedanke, der im Sammelband nicht aufgegriffen wurde.
Dass die Beschäftigung mit Erfahrungen aber zum Nachdenken über grundlegende Aspekte der Beschäftigung mit Geschichte führen kann, macht der einführende Beitrag von Peter Schulz-Hageleit deutlich, der eine "Achse bildete, um die sich die anderen Beiträge herumbewegten" (10). Schulz-Hageleit greift dabei grundlegende Thesen zu Geschichte und Politik auf, wie dass es nicht nur die Sieger, sondern doch Verlierer seien, die die Geschichte schreiben, Faktenreihen der Geschichte mit ihrer unendlichen Vielfalt immer das belegen können, was bewiesen werden soll und schließlich auch, dass die "Nazismus- Pest [...] bestenfalls eingedämmt und kontrolliert, aber nicht ein für alle Male besiegt werden" kann (18).
Die im Vorwort angekündigte Vielfalt der folgenden Beiträge kann hier nur in einer Auswahl schlaglichtartig beleuchtet werden. Sie ist in vier Abschnitte gegliedert: Kritik des Begriffs historische Erfahrung, historische Erfahrung in Medien, historische Erfahrung und Emanzipation sowie schließlich historische Erfahrung in Zeit und Raum. Wolfgang Hasberg, Lale Yildirim, Nina Reusch und Oliver Plessow leiten jeweils einen Abschnitt mit einem aufschlussreichen Kommentar zu den Beiträgen ein. Wolfgang Hasberg mahnt zum ersten Abschnitt dabei an, dass mehr zu beachten sei, dass Koselleck den Umgang mit Erfahrungen in der Vergangenheit analysiert, während Ankersmit und Rüsen Erfahrung als Moment des historischen Erkenntnisprozesses in den Blick nehmen. Einen neuen Begriff verwendet Jörg van Norden mit der "Widerfahrnis", die man eher passiv erleidet, wenn man "etwas durchmacht" (68). Seine These, dass materielle Objekte aus der Vergangenheit keine substantiellen historischen Erfahrungen ermöglichen würden, steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Beitrag von Daniel Brandau im folgenden Abschnitt zu Erfahrungen in Medien, der ein diesbezügliches Potenzial gerade für den inklusionsorientierten Sachunterricht sieht. Michael Zech analysiert, inwieweit die "Atmosphäre" an historischen Orten zu historischen Erfahrungen bei Lernenden führt. Die oben genannte Theorie von Jörn Rüsen wird von Sabrina Schmitz-Zerres ausdifferenziert, indem sie Zeitpraktiken und Zeitsemantiken in Ego-Dokumenten in den Blick nimmt. Den dritten Abschnitt zu Erfahrung und Emanzipation leitet Nina Reusch mit einer anschaulichen Darstellung der Kernthesen der Beiträge ein. Mit der Rolle von Praxiserfahrungen bei der professionellen Qualifikation der Lehrenden in Schulen und Universitäten im Bereich der historischen Bildung nimmt Oliver Plessow in diesem Abschnitt eine bis dahin nicht beachtete Perspektive ein. Hier wird Erfahrung zu einem "kulturellen Kapital" in Anlehnung an Bordieu, dessen Wert allerdings an den Universitäten zurzeit rapide verfällt, denn bei der aktuell zunehmenden Praxis der Besetzung von Professuren als Juniorprofessur mit Tenure-Track besteht kaum noch die Möglichkeit, Praxiserfahrungen in größerem Umfang zu verlangen. Der vierte Abschnitt widmet sich der historischen Erfahrung in Zeit und Raum. Oliver Plessow macht in seinem einleitenden Kommentar darauf aufmerksam, dass die durchaus umfangreichen Theoriegebäude zur Erinnerung in den Beiträgen kaum berücksichtigt werden. Vorstellungen zur Zeit werden allerdings intensiv bearbeitet, so bieten Thomas Martin Buck und Wolfgang Hasberg mit ihren Beiträgen geradezu ein Panorama von entsprechenden Gedanken in der Philosophiegeschichte ausgehend von unter anderem Aristoteles, Augustinus, Kant und Hegel. Andreas Hübner konturiert die Epochenvorstellung des Anthropozän, das er als "Schwelle historischer Erfahrung" begreift (274) und im globalisierten Raum analysiert.
Das Potential des Bandes liegt insgesamt in vielen aufschlussreichen Einzelheiten und Gedanken in den Beiträgen, deren Vielfalt in einer möglicherweise produktiven Spannung zu dem eingangs geschilderten Vorschlag für ein grundlegendes Verständnis des Erfahrungsbegriffs im Feld der Geschichtsdidaktik steht.
Anmerkungen:
[1] Frank Urbaniok: Darwin schlägt Kant. Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen. Zürich 2020.
[2] Paul Veyne: Geschichtsschreibung. Und was sie nicht ist. Frankfurt a. Main 1990, 113.
Björn Onken