Michael Haberer: Kardinal Khlesl. Der Richelieu des Kaisers, Norderstedt: Books on Demand 2022, 684 S., ISBN 978-3-7543-0315-3, EUR 49,90
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Das anzuzeigende Buch scheint auf den ersten Blick eine Forschungslücke zu füllen: Weder zu Kardinal Khlesl noch zu "seinem" Kaiser Matthias lagen bislang aktuelle wissenschaftliche Biographien vor. [1] Das ist umso bedauerlicher, als es sich bei ihnen um Persönlichkeiten handelte, die in den Jahren vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs Schlüsselpositionen im Reich innehatten. Gerade weil sie und ihre "Kompositionspolitik" von der älteren Forschung vielfach kritisch beurteilt wurden, ist es an der Zeit, dass neue Studien, unter Auswertung neuer Quellenbestände und vor allem unter Berücksichtigung aktueller Forschungsfragen, diese Urteile einer kritischen Überprüfung unterziehen.
Dementsprechend gespannt war der Rezensent auf die Lektüre der knapp 630 Seiten langen Khlesl-Biographie von Michael Haberer. Der Leistung des Autors, der 1999 mit einer Dissertation über Leonhard von Harrach, einen Zeitgenossen Khlesls, bei Wolfgang Reinhard promoviert wurde, ist durchaus Respekt zu zollen. Er hat für sein Buch zwar keine Archivalien, wohl aber in großem Umfang gedruckte Quellen und Forschungsliteratur ausgewertet und das wechselvolle Leben Khlesls detailliert nachgezeichnet, das ihn von den bescheidenen Ursprüngen als Sohn eines evangelischen Wiener Bäckermeisters über die Konversion zum Katholizismus und das Theologiestudium in die Tätigkeit als Passauer Offizial und "Generalreformator" in Niederösterreich führte. Der Verfasser betont, dass Khlesl in seinen Bestrebungen, die protestantische Bevölkerung für die katholische Kirche zurückzugewinnen, pragmatisch vorging und auf unnötige Polemik verzichtete. Er stieß allerdings auf diverse Widerstände, nicht nur beim protestantischen Adel, sondern auch bei kompromisslosen katholischen Geistlichen sowie in der landesherrlichen Administration. In den 1590er Jahren verloren die gegenreformatorischen Maßnahmen in Österreich an Schwung, und Khlesls Gegner versuchten ihn kaltzustellen, indem man ihm zusätzlich zu Wiener Neustadt mit Wien auch das zweite niederösterreichische Zwergbistum antrug - dies nötigte ihn, die Position des Passauer Offizials aufzugeben.
In wachsendem Maße wurde die Position des Katholizismus auch durch den habsburgischen Bruderzwist geschwächt. Haberer schildert ausführlich, dass Khlesl, der seinen Tätigkeitsschwerpunkt immer mehr in den Bereich der weltlichen Politik verlagerte, lange zwischen Kaiser Rudolph II. und seinem Bruder, dem österreichischen Statthalter Matthias, zu vermitteln suchte, gleichzeitig aber in konfessionellen Belangen weniger konziliant als in früheren und späteren Jahren auftrat. Haberer betont ausdrücklich, dass Khlesl erst allmählich in die Position des "Günstlings-Ministers" des nunmehrigen Königs Matthias hineinwuchs. Erst 1609 war er zu seinem wichtigsten Berater avanciert, und es dauerte bis 1613, bis er den Vorsitz im Geheimen Rat erhielt. Dies war auch ein Lohn für seine politischen Erfolge, die 1612 in Matthias' Kaiserwahl gipfelten.
Haberer schildert die Position des "Günstlings-Ministers" Khlesl gleichwohl als prekär. So bewahrte er zwar seine Vertrauensstellung bei Matthias und seiner Gemahlin Anna von Tirol und wurde 1615/16 mit dem Kardinalstitel ausgezeichnet, doch seine auf einen Ausgleich zwischen den Konfessionsparteien zielende Kompositionspolitik im Reich stieß weitgehend ins Leere. Mit dem kinderlosen Matthias, der ähnlich wie schon sein Bruder Rudolph II. von seinen Verwandten in wachsendem Maße gedrängt wurde, die Nachfolgefrage zu klären, geriet auch sein "Günstlings-Minister" Khlesl unter Druck, der, wie Haberer betont, als Aufsteiger noch angreifbarer war als etwa in Spanien der Herzog von Lerma. Er schildert, wie schon der Verdacht, die Nachfolge Ferdinands von Innerösterreich zu hintertreiben, Pläne zu Khlesls Sturz und Inhaftierung reifen ließ, was dann 1618 auf Betreiben Ferdinands und des Erzherzogs Maximilian erfolgte, als der Kardinal nach dem Prager Fenstersturz einen Ausgleich mit den böhmischen Aufständischen anstrebte. Die letzten zwölf Lebensjahre Khlesls - seine Haft, seine Überstellung nach Rom (1622), seine Rückkehr nach Wien (1628) und sein Wirken als Bischof seiner beiden Diözesen bis zu seinem Tod 1630 erscheinen nachvollziehbarerweise fast schon wie eine Art Nachruf auf den einflussreichen "Günstlings-Minister". Die Darstellung endet mit einer retrospektiven Zusammenfassung.
Haberer zeichnet die wechselvolle Biographie seines Protagonisten geradezu minutiös nach. Dennoch - und teilweise gerade deshalb - kann sein Buch nur eingeschränkt überzeugen. In der Überfülle der Fakten droht man den Überblick zu verlieren, obwohl der Band in zahlreiche, kurze Unterkapitel gegliedert ist. Neben gelegentlichen umgangssprachlichen Wendungen haben den Rezensenten passagenweise die sehr kurzen Sätze gestört, die bisweilen den Eindruck erwecken, es gehe ihm weniger um eine abwägende, unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten einräumende Darstellung als um das Liefern von "Fakten". Der allzu sparsame Einsatz des Konjunktivs scheint in eine ähnliche Richtung zu deuten.
Die jeweiligen Kontexte werden nicht immer so genau ausgeführt, dass die Darstellung ohne Vorkenntnisse verständlich wäre. Manche Akteurinnen und Akteure stolpern gleichsam in die Handlung, ohne genau vorgestellt worden zu sein. Das trifft etwa auf Erzherzogin Maria zu, die Witwe Erzherzog Karls von Innerösterreich und Mutter Ferdinands II. Immerhin ermöglicht es das Register, gezielt Informationen zu einzelnen Personen zu ermitteln.
Bedauerlich ist vor allem, dass Haberer es versäumt, seine Biographie Khlesls zu nutzen, um sich systematisch in aktuellen Forschungsdiskussionen zu positionieren und so einen fundierten Beitrag zu diesen Diskussionen zu leisten. Dabei geht er in der Einleitung auf die bisherigen Forschungspositionen zu Khlesl ein und legt schon durch den Titel der Studie nahe, dass die Biographie Khlesls einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des frühneuzeitlichen Favoritentums leisten könnte. Ich will nicht behaupten, dass er zu diesem Thema gar nichts sagen würde. Es gibt Passagen, in denen er "seinen" Kardinal mit Richelieu oder Lerma vergleicht, doch dieser Vergleich wird eben nicht konsequent durchgeführt. Wie von einem Reinhard-Schüler zu erwarten, äußert sich Haberer auch zu Patronage und Konfessionalisierung. Aber er tut auch dies mehr en passant und schöpft so das Erkenntnispotential seiner Studie nicht aus. Auch der sehr schmale Anmerkungsapparat, der sich auf knappste Quellen- und Literaturnachweise beschränkt, eröffnet weder hier noch sonst einen wirklichen Zugang zu den Forschungsdiskussionen. Das gilt auch für die Diskussion um die Bewertung der Leistungen Khlesls. Hier kritisiert der Verfasser v.a. Heinz Angermeier, dem "ein belastbarer Überblick" gefehlt habe, "wann Khlesl was in seiner Karriere getan habe" (5). [2] Einen solchen Überblick wollte Haberer mit seiner "distanzierte[n] Erzählung der Karriereschritte Khlesls" schaffen, und somit auch "die Grundlage für Interpretationen und Urteile über Khlesl" (6).
Den detaillierten "Überblick" hat Haberer zweifellos geliefert, diese Grundlage aber nur zurückhaltend und unsystematisch für "Interpretationen und Urteile" genutzt. Damit ist er gewissermaßen auf halbem Wege stehengeblieben. Auch das Fazit bleibt eher vage. Haberer meint, dass "Khlesls Strategie [...], anders als Angermeier glaubte, nicht aufgehen" konnte (627). Er führt dies aber nicht auf ein im Grundsatz untaugliches politisches Konzept zurück, sondern in erster Linie auf den Zeitmangel, während er den "außergewöhnlichen individuellen Fähigkeiten Khlesls" (628f.) Respekt zollt. Es ist auffällig, dass der letzte Abschnitt der Studie zu einem erheblichen Teil aus Fragen besteht. Abgesehen von der rein faktografischen Ebene sind auch beim Rezensenten manche Fragen geblieben - und die bedauernde Feststellung, dass er auf eine wirklich "große" wissenschaftliche Biographie Kardinal Khlesls noch warten muss.
Anmerkungen:
[1] Die Biographie von Bernd Rill: Kaiser Matthias. Bruderzwist und Glaubenskampf, Graz 1999, kann diesem Anspruch nur mit Einschränkungen genügen.
[2] Haberer bezieht sich damit auf einen nahezu monographische Dimensionen erreichenden Aufsatz von Heinz Angermeier: Politik, Religion und Reich bei Kardinal Melchior Khlesl. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 123 (1993), 249-330.
Matthias Schnettger