Heinz Duchhardt: Der Alte Ranke. Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich, Berlin: Vergangenheitsverlag 2023, 400 S., ISBN 978-3-86408-297-9, EUR 28,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Martin Espenhorst / Heinz Duchhardt (Hgg.): Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleitungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012
Heinz Duchhardt / Karl Teppe (Hgg.): Karl vom und zum Stein: der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, Mainz: Philipp von Zabern 2003
Heinz Duchhardt: Der Aachener Kongress 1818. Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz, München / Zürich: Piper Verlag 2018
Die Ranke-Forschung hat sich lange um geschichtstheoretische Fragen gedreht. Seitdem sie mehr und mehr historisch geworden ist, ist die "große" Ranke-Biographie ein Desiderat. In jüngster Zeit hat man dazu entscheidende Vorarbeiten geleistet. Neben der Erschließung des Ranke-Nachlasses in der Berliner Staatsbibliothek durch Siegfried Baur ist besonders das gewaltige Quellen- und Literaturinventar von Günter Johannes Henz zu erwähnen. [1] Ein erster Realisierungsversuch, die "Biografie" von Dominik Juhnke, [2] bietet eine gut informierte Einführung. Duchhardt legt eine "(Teil-)Biographie" (288) vor, die sich als Beitrag zu "eine[r] umfassende[n] Ranke-Biographie" (13) versteht. Er weiß sich Baur und Henz verpflichtet, kann aber zugleich an eigene Studien anknüpfen, die ihn Zug um Zug zu Ranke geführt haben, vorab an eine Monographie über Rankes "Sekretär" Theodor Wiedemann [3], die ein zentrales Kapitel seines Buchs vorwegnimmt.
Warum der "alte Ranke"? Duchhardt hält die Spätzeit Rankes für "eine fundamental neue Phase in seiner Vita" (313), die man bisher zu Unrecht vernachlässigt habe. Jedenfalls ist er der Erste, der darüber eine eigene Darstellung verfasst, die unser Wissen auf ein quantitativ wie qualitativ neues Niveau hebt. Eine Rolle spielt auch Duchhardts Alter, von dem er sich einen gleichsam exklusiven Zugang zu den Befindlichkeiten seines "Altersgenossen" verspricht. Ausgangspunkt ist das Jahr 1871, in dem sich für Ranke durch den Tod seiner Ehefrau Clarissa und durch den teils gesundheitlich bedingten, teils mangels Hörerinteresse erzwungenen Rückzug vom akademischen Lehramt "beinahe alles, ja: alles" geändert habe (17). Duchhardts These lautet, dass Ranke sich seitdem ganz auf sich selbst zurückgezogen habe, um mit vermehrter Anstrengung seine historiographischen Projekte voranzutreiben. Er liefert dazu, nach einem Rückblick auf die Zeit vor 1871, eine Art Bestandsaufnahme von Leben und Werk. Zunächst werden die Person und ihr Umfeld vorgeführt: die Familie; der streng reglementierte Tagesablauf; der "kranke" Ranke, zumal seine zunehmende Erblindung: "der worst case seines Wissenschaftlerlebens" (93); der nahezu pausenlos beanspruchte Mitarbeiterstab um Theodor Wiedemann; die stark reduzierten Außenkontakte; das innige Verhältnis zum preußischen Hof; die konservativen Anschauungen des - von Duchhardt so genannten - "homo politicus".
Sodann stellt der Verfasser Rankes historiographische Hervorbringungen seit 1871 vor: Schriften zur neueren und neuesten, zumal preußischen Geschichte, die Fortführung der 1867 begonnenen Ausgabe der "Sämmtlichen Werke", schließlich die "Weltgeschichte". Er nennt jeweils Entstehungs- und Publikationsdaten, skizziert Motive und Quellen, macht knappe Bemerkungen zum Inhalt und zur Sprache und listet zeitgenössische Rezensionen auf. Zum Schluss geht es um Rankes letzte Tage und die Reaktionen auf seinen Tod. Bei alledem ist Duchhardt alles andere als ein Lobredner Rankes. So sehr er die ungeheure wissenschaftliche Leistung anerkennt, die Ranke in dieser Zeit, zuletzt in einem forcierten Wettlauf mit dem Tod, erbracht hat: fast noch mehr ist es ihm darum zu tun, offensichtlich "negative" Seiten zu beleuchten: Rankes maßlose Eitelkeit und Selbstüberhebung, überhaupt seine charakterlichen Schwächen, seine chaotische Arbeitsweise, handwerkliche Mängel bei der Quellenarbeit, Vernachlässigung der Forschungsliteratur, abnehmende literarische Qualität. Was Duchhardt hier an Daten, Fakten und Namen, an punktgenauen Informationen, an gründlich recherchierten Ergebnissen zusammenträgt, ist Grundlagenforschung par excellence, von der künftig in der Ranke-Biographik in allen ihren Ausprägungen ausgegangen werden muss.
Besonders zu diskutieren ist hier, dass Duchhardt parallel zu der Veränderung, die 1871 in Rankes Leben eingetreten ist, eine thematische Veränderung in Rankes Geschichtsschreibung konstatiert, die auch den Untertitel seines Buchs erklärt. Ranke, bis dahin ein Historiker des 16. und 17. Jahrhunderts, habe sich mit seiner Wendung zur neueren und neuesten Geschichte "von seinem ureigensten und hauptsächlichen Forschungsgebiet deutlich abgewandt" (242), und zwar aus dem Bedürfnis heraus, seine Geschichtsschreibung zu der gegenwärtigen politischen Lage in Beziehung zu setzen; er habe damals überhaupt ein "neues Bewusstsein von der Zeit- und Aktualitätsgebundenheit des Historikers" gewonnen und sei damit einem Geschichtsschreiber der politischen Schule wie Johann Gustav Droysen, einem seiner schärfsten Kontrahenten, näher gerückt (208 f.). In den Schriften zur preußischen Geschichte, besonders in Auftragsarbeiten über Friedrich Wilhelm IV. und Hardenberg, schlug das direkt "ins Politische" um; Ranke erschien da "als Sprachrohr der Dynastie", der "machtorientierte Apologie" betrieb ( 218 f.). Duchhardt bemerkt auch in der "Weltgeschichte" ein politisches Motiv, diesmal aus dem Geist des aufkommenden Imperialismus. Ranke ließ sich damit, gemäß dem Untertitel, als "politischer Geschichtsschreiber im Kaiserreich" qualifizieren.
Diese Beobachtungen sind doppelt zu relativieren. Einmal setzte Ranke, nach 1871, wenn auch mit neuen Vorzeichen, die Richtung fort, die seine Geschichtsschreibung seit den 1830er Jahren eingeschlagen hatte. Zum andern hielt er auch jetzt, ungeachtet politischer Einfärbungen, an einem genuinen Erkenntnisanspruch fest. Duchhardt selbst grenzt Ranke, bei aller Analogisierung oder Parallelisierung, von der parteiischen Geschichtsschreibung der politischen Schule ab, die ihn ja gerade deswegen kritisierte. Er zitiert dazu, wiederum nicht ohne eine gewisse Sympathie, Heinrich von Treitschke, der Ranke geradezu den "Charakter" für die preußische Geschichte abspricht (219); er meint damit seinen eigenen borussisch-kleindeutschen Standpunkt. In der Tat: Rankes politische Geschichtsschreibung verstand sich grundsätzlich nicht als Tendenzhistorie, sondern als Aufklärung über die historischen Bedingungen der Gegenwart; er gab darin keine politischen, sondern logische Urteile ab, die der Politik Orientierungswissen zur Verfügung stellen sollten. Der Rankesche Objektivitätsgedanke hatte hier seinen Sitz. Statt um eine Politisierung der Historie handelte es sich um ein dialektisches Verhältnis von Politik und Historie.
Auch der "homo politicus" Ranke gerät damit etwas ins Zwielicht. Landläufig bezeichnet man mit diesem Begriff einen Vollblutpolitiker oder doch jemanden, der in seinem ganzen Dasein primär von politischen Motiven durchdrungen ist (wie auf ihre Weise Droysen oder Treitschke). Ranke war dagegen, mit Duchhardt, nichts weiter als ein Historiker, der auch politische Interessen hatte und früher vereinzelt auch, als offiziöser Publizist oder Gutachter, politisch tätig geworden war. Aber selbst das ist, für sich genommen, kaum erwähnenswert. Rankes politische Ansichten waren wirklich nicht originell; seine praktischen Interventionen haben wenig oder nichts gefruchtet. "Er ist kein Politiker, und handelte es sich nicht um den großen Geschichtsschreiber, würde kein Mensch mehr sich um seine politischen Versuche kümmern." [4] Sie haben uns allein deswegen zu beschäftigen, weil er aus ihnen Erkenntnisinteressen entwickelt hat. Man kann, mit einiger Zuspitzung, sagen, dass er von vornherein einen historischen Blick auf die Politik hatte, dass er überhaupt die Welt in allen ihren Erscheinungsformen mit historischen Augen ansah, dass er also immer ein "homo historicus" blieb.
Es sei hinzugefügt, dass der Verfasser bei der Besprechung der Rankeschen Schriften, aufs Ganze gesehen, allzu summarisch verfährt. Man bekommt nur wenig Konkretes über den Inhalt, die sprachliche Gestaltung, den Zusammenhang der Texte untereinander und mit früheren Schriften zu lesen. Die Kehrseite ist, dass die äußeren Umstände, in denen Ranke Geschichte geschrieben hat, gegenüber dem historiographischen Werk selbst sozusagen aufgewertet werden. Das trifft nicht nur auf die politische Motivierung zu, sondern auch auf andere Faktoren oder Einwirkungen. Diese Dinge sind wichtig, und es ist das große Verdienst des Verfassers, sie uns eindringlich geschildert zu haben; aber sie besagen selbstverständlich noch nichts über die Qualität der daraus hervorgegangenen Werke insgesamt. Die chaotische Arbeitsweise Rankes etwa erlaubt noch kein Urteil über das Endprodukt. Jedenfalls ließe sich hier nur durch genauere Textanalysen Klarheit schaffen. Generell gilt, dass Rankes Geschichtsschreibung nun einmal der Inbegriff oder die Quintessenz dieses Historikerlebens ist. Natürlich kann eine Historiker-Biographie hier nicht so ausführlich sein wie eine historiographiegeschichtliche Monographie; aber sie sollte doch die wesentlichen Momente zur Anschauung bringen.
Anmerkungen:
[1] Günter Johannes Henz: Leopold von Ranke in Geschichtsdenken und Forschung, 2 Bde., Berlin 2014.
[2] Dominik Juhnke: Leopold Ranke. Biografie eines Biografie eines Geschichtsbesessenen, Berlin 2015.
[3] Heinz Duchhardt: Rankes Sekretär. Theodor Wiedemann und die Bücher-Werkstatt des Altmeisters, Berlin 2021.
[4] Otto Vossler: Ranke und die Politik. In: Ders., Geist und Geschichte. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Gesammelte Aufsätze, München 1964, 166-183, hier 174.
Ulrich Muhlack