Friederike Hoyer: Der Blick nach Byzanz. Die griechisch-orthodoxe Kirche in der lateineuropäischen Kirchengeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit (= Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne; Bd. 23), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 246 S., ISBN 978-3-515-13367-8, EUR 50,00
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"Wie man auch das Wesen der Reformation auffassen und bestimmen mag, sie schließt unmittelbar eine wesentlich andere Geschichtsanschauung in sich, der Natur der Sache nach konnte man über das Resultat, das der ganze Entwicklungsgang der christlichen Kirche gehabt hatte, nicht so verschiedener und ganz entgegengesetzter Ansicht sein, ohne daß derselbe Gegensatz, in welchem die beiden Parteien einander entgegen standen, sich auch auf alles dasjenige erstreckte, was jenes Resultat zu seiner nothwendigen Voraussetzung hatte". Diese von Ferdinand Christian Baur schon 1852 (Die Geschichte der kirchlichen Geschichtsschreibung, S. 41) formulierte Einsicht illustriert Friederike Hoyers sehr lesenswerte Hamburger Dissertation im Fach Byzantinistik. Sie macht darauf aufmerksam, wie gerade die Kontroverse zwischen den entstehenden und sich allmählich verfestigenden, von kontradiktorischen Gegensätzen getrennten und doch durch gemeinsame normative Traditionsbestände untrennbar verbundenen Gestaltungen westlichen Christentums generell das Interesse an der Geschichte der christlichen Religion neu befeuerte. Mit der Verarbeitung des Traumas der von der Reformation verursachten Kirchenspaltung entstanden konfessionell deutlich differente Gesamtbilder der Kirchengeschichte, die zumal deshalb mehr waren als die bisherigen (chronistischen) Fortschreibungen der Kirchengeschichte des Euseb (gest. 339), weil in ihnen auch die quellenkritischen Impulse des Humanismus zum Tragen kamen.
Obwohl die orthodoxe Christenheit, in der das Erbe des oströmischen Reiches fortlebte, in die spezifisch lateineuropäischen Konflikte der Reformation nicht involviert war, geriet auch sie alsbald passiv in den Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte der christlichen Religion: Schon früh verwies Luther positiv auf sie als ein Exempel für dauerhaft lebendiges Christentum, das sich den Herrschaftsprätensionen des Römischen Papsttums nie unterworfen habe. Die altgläubigen Entgegnungen verwiesen darauf, dass die schismatisch-häretische Trennung der Ostkirche vom Stuhl Petri erst jüngeren Datums sei und dann 1453 ja auch in die Katastrophe geführt habe. Die Wechselwirkungen zwischen der Ausbildung der konträren Geschichtsbilder und der aufblühenden Byzantinistik verliefen nicht so rasch und einlinig, wie man annehmen könnte: Einmal bissen sich die streitenden Parteien in ihren Deutungskämpfen zunächst einmal an ihnen gemeinsam vorgegebenen (lateinischen) Quellenbeständen fest; zum andern waren die protestantischen Autoren ihren papstkirchlichen Gegnern, die zunächst noch das alleinige Zugriffsrecht auf die einmalig reichen römischen Bibliotheks- und Archivbestände hatten, quellenheuristisch hoffnungslos unterlegen.
In drei minutiös gearbeiteten, exemplarischen Tiefenbohrungen lässt Friederike Hoyer ihre Leser an konkreten Deutungskonflikten teilhaben. Ihre Hauptquellen sind einerseits die historischen Arbeiten, die Matthias Flacius Illyricus (1520-1575) selbst verfasst (Catalogus testium veritatis, zuerst 1556) bzw. initiiert hat (Magdeburger Centurien, 1559-1575), anderseits die durch diese provozierten "Annales Ecclesiastici" (1588-1607) des Kardinals Caesar Baronius (1538-1607). Darüber hinaus nimmt sie von Fall zu Fall weitere Werke bis ins 18. Jhdt. hinzu; eine feste Grenze zieht sie nicht: Hierzu hätte sich etwa die große kirchengeschichtliche Gesamtdarstellung des Johann Lorenz v. Mosheim (1693-1755) angeboten, die zwar noch der von Hoyer so genannten Loci-Methode (die übrigens schon in der von Euseb, HE I,1 entfalteten Programmatik präformiert ist) verhaftet bleibt, sich aber zugleich auf dem Wege zu einer aufgeklärten Sichtweise befindet, welche die konfessionellen Gegensätze vorsichtig historisiert.
Dem 602 durch einen Militärputsch an die Macht gekommenen oströmischen Kaiser Phokas wird in einigen Sekundärquellen ein Dekret zugeschrieben, in welchem er den Römischen Bischof als "'caput omnium ecclesiarum'" (47, Anm. 14) anerkannt habe. Die protestantische Lesart sah hierin ein manifestes Indiz dafür, dass an diesem Punkt der Teufel den Usurpator benutzt habe, um seine Herrschaft in der Kirche aufzurichten; die altgläubige Lesart spielte die Bedeutung des Dokuments herunter, indem sie es als eher beiläufige Manifestation einer längst etablierten Gemeinüberzeugung deutete.
Im 8./9. Jhdt. wurde im oströmischen Reich erbittert um die theologische Legitimität der kultischen Verehrung von Heiligenbildern gestritten. Die kirchenpolitischen Parteiungen verschränkten sich mit Hof- und Palastintrigen, und so wogten die Auseinandersetzungen hin und her, bevor die Verteidiger der bisherigen Praxis ('Ikonodulen') den Sieg davontrugen, indem sie bestimmte Kautelen aufstellten, die sicherstellen sollten, dass die eigentliche Anbetung im strengen Sinne allein der göttlichen Dreifaltigkeit gelte. Dieser Streit strahlte auch in den Westen aus: Eine von Karl dem Großen nach Frankfurt einberufene Synode stellte sich gegen die Bilderverehrung und ihre Apologeten, während die Päpste für die andere Seite Partei nahmen. Hoyer stellt minutiös dar, wie die Magdeburger Zenturien die spezifisch lutherische, eigene Position in der Bilderfrage in die Kämpfe des 8./9. Jahrhunderts hineinlasen: Die Päpste als Agenten des Antichrists hätten gegen die bilderfeindlichen (ikonoklastischen), also aus protestantischer Perspektive rechtgläubigen, Kaiser gearbeitet und mit der Translatio Imperii einen katastrophalen Übergriff der Geistlichen Gewalt in den Bereich der Weltlichen begangen. Während also die protestantischen Autoren hier ihre Quellen gegen den Strich bürsteten, konnten sich die Katholiken mit deren Tendenz identifizieren und die papstkirchliche Praxis der Bilderverehrung mit dem Verweis auf Märtyrer unter den Ikonodulen legitimieren.
Als seinerseits temporär abgesetzter und verbannter Patriarch von Konstantinopel stand Photios zeitweise im Zentrum der Auseinandersetzungen mit der Sedes Romana, in denen es um den Textbestand des Nicaeno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses ('Filioque') sowie um die kirchliche Oberherrschaft über Bulgarien ging, das sich im Prozess der Christianisierung befand. Da an den kirchenpolitischen Kämpfen, die zur Absetzung des Photios führten, auch Papst Nikolaus I. beteiligt war, weckte der skandalumwitterte Patriarch das Interesse des Matthias Flacius Illyricus, der ihn zum tragischen Helden des Kampfes gegen päpstliche Prätensionen erhob; Baronius hingegen stützte sich auf andere Quellen und malte das Porträt eines Bösewichts, der die aus seiner papstkirchlichen Sicht rechtgläubigen Ikonodulen verfolgt habe.
Das letzte Kapitel der Studie fällt aus der Reihe heraus, denn mit den von Tübingen ausgehenden erfolglosen lutherischen Versuchen, den antirömischen Schulterschluss mit dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel zu bewerkstelligen, und dessen historiographischem Widerhall rückt ein Ereigniszusammenhang in den Focus, der nicht mehr in den gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungsbestand der widereinander sich verselbstständigenden Konfessionskulturen gehört.
Soweit mein Referat, das angesichts der verwickelten Untersuchungs- und Argumentationsgänge des Buches notgedrungen oberflächlich ausfallen muss. In ihrer übergreifenden Fragestellung und ihrem methodischen Zugriff ist die Studie dem von Maurice Halbwachs entwickelten und in Deutschland maßgeblich von den Eheleuten Assmann geschichtspolitisch zur Wirkung gebrachten Konzept des Kulturellen Gedächtnisses und seiner unterschiedlichen Segmente verpflichtet. Mir hat sich beim Lesen immer wieder die Frage aufgedrängt, ob dieses Konzept nicht eigentlich erst dann wirklich erschließungskräftig wird, wenn Geschichtsschreibung sich in dem Sinne professionalisiert, dass sie ihre eigenen erkenntnisleitenden Interessen kritisch reflektiert - in Deutschland beginnend etwa mit dem geschichtsphilosophischen Jugendwerk Herders. Die von Hoyer herangezogenen Werke sind doch, beginnend mit der Historia Ecclesiastica des Euseb, allesamt Werke sowohl des Speicher- als auch des Funktionsgedächtnisses. Allenfalls hätte es sich nahegelegt, den Spuren der volkspädagogischen Verwendung der in den historiographischen Werken erarbeiteten Bilder geschichtlicher Konflikte und Verläufe nachzugehen. Hierzu fällt mir spontan nur ein - leider außerdeutsches - Beispiel ein: Zu den normativen Dokumenten der Etablierung der Englischen Staatskirche unter Elisabeth I. gehören auch zwei Predigtsammlungen, die "Books of Homilies". [1] Die längste der insgesamt 34 zum wörtlichen Vorlesen bestimmten Predigten ist dem Thema der Bilderverehrung gewidmet: [2] Hier werden in erschöpfender Ausführlichkeit und höchst tendenziös die byzantinischen Bilderstreitigkeiten rekapituliert. Vielleicht findet Hoyer ja Zeit und Gelegenheit, ihre vorzügliche Dissertation noch durch eine Untersuchung in dieser Richtung zu flankieren?
Anmerkungen:
[1] Die beste Ausgabe ist nach wie vor The Two Books of Homilies Appointed to be Read in Churches, Oxford 1859; Leichter zugänglich ist jetzt The Books of Homilies. A Critical Edition, edited by Gerald Bray, Cambridge 2015; s. auch meine Anzeige in ThLZ 144/2019, Sp. 603-605.
[2] "An Homily Against Peril of Idolatry and Superfluous Decking of Churches" (Buch 2 Nr. 2, in der Ausgabe von Bray [s. vorige Anm.] 217-291, zum Bilderstreit 237-249).
Martin Ohst