Rezension über:

Corine Defrance: Françoise Frenkel. Portrait d'une inconnue (= l'arbalète), Paris: Éditions Gallimard 2022, 215 S., 11 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-2-07-293838-2, EUR 19,50
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Rezension von:
Claudia Moisel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Moisel: Rezension von: Corine Defrance: Françoise Frenkel. Portrait d'une inconnue, Paris: Éditions Gallimard 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/37553.html


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Corine Defrance: Françoise Frenkel

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Peter Schöttler hat vor nunmehr einiger Zeit ein ganz außergewöhnliches Buch vorgelegt, das dem Leben und Werk der Wiener Historikerin der Annales und - nach 1933 - jüdischen Emigrantin Lucie Varga, geborene Rosa Stern, gewidmet war und bei suhrkamp zuletzt mit guten Gründen eine Neuauflage erfahren hat [1]. Es erzählt die Geschichte einer hochbegabten, zugleich in persönlichen Dingen bis zur Selbstaufgabe zurückhaltenden Grenzgängerin, deren ohnehin prekäre Stellung als Wissenschaftlerin im Pariser Hochschulbetrieb sich mit der deutschen Besatzung als völlig unhaltbar erwies und ihr Leben vor der Zeit beendete. Die sorgfältige Rekonstruktion eines nur in Bruchstücken überlieferten Lebens mit tragischem Ausgang und ein nur fragmentarisch erhaltenes Œuvre waren beim Erscheinen 1991 ein Ereignis, denn die Gewürdigte war auch als Frau dem Kanon nicht bekannt. Von der "vergessenen" Historikerin des Nationalsozialismus haben die Rezensenten gesprochen. Von verwischten Spuren sprach folgerichtig der Klappentext, zugleich von einem bedeutsamen Beitrag zum sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Paradigmenwechsel am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Nicht alles, aber doch sehr vieles ließe sich auch von Françoise Frenkel sagen, geboren in bürgerlichen Verhältnissen 1889 in Piotrków (Russisches Kaiserreich), verstorben 1975 an der französischen Riviera, im Zweiten Weltkrieg vorübergehend ein Zentrum der deutschsprachigen Emigration. "Portrait d'une inconnue" heißt es über die promovierte Buchhändlerin polnischer Muttersprache bei Corine Defrance, die damit eine weitere vergangene Frauenfigur der deutsch-französischen Verflechtungsgeschichte in das kollektive Gedächtnis zurückgerufen hat. Die autobiografische Verarbeitung einer 1943 schließlich gelingenden Flucht über die Schweizer Grenze, unmittelbar nach Kriegende unter dem Titel "Rien où poser sa tête" erstmals erschienen, hat sich in der Neuauflage 2015 in Frankreich als Überraschungserfolg erwiesen [2].

Zu berichten weiß Defrance, trotz fragmentarischer Überlieferungslage, von unbeschwerten Studienjahren in Leipzig und Paris, enttäuschten polnischen Hoffnungen im Kontext der Staatsgründung 1918 und tastenden beruflichen Anfängen im Berlin der Zwischenkriegszeit als Inhaberin einer Französischen Buchhandlung (der einzigen), die sich schließlich als ein kultureller Begegnungsraum zeitgenössischer Autorinnen etablierte, darunter Colette und mit André Gide ein späterer Nobelpreisträger (1947). Sorgfältig rekonstruiert finden sich die schwere Einsicht in die Aussichtslosigkeit der politischen Lage und eine Ausreise bei Kriegsbeginn 1939 über Paris und Nizza, schließlich in die Schweiz, die der jüdischen Emigrantin das Leben rettete, auch mit Unterstützung von Léon Wechsler, dem Züricher Cousin, der als erfolgreicher Filmproduzent die dafür unabdingbare Bürgschaft übernahm. Es ist schließlich von den Spuren zu berichten, die ein solches Leben über 1945 hinaus gezeichnet haben: Das Wissen um die Ermordung der in Polen verbliebenen Familie sowie, bis ans Lebensende, ausgedehnte Korrespondenzen mit dem Landesamt für Wiedergutmachung in Berlin, verwaltungstechnisch genormte Versuche der Bewältigung einer Vergangenheit, die in schmale Ausgleichszahlungen und depressive Verstimmungen münden und eine Wiederaufnahme der beruflichen Existenz dauerhaft verstellen. "Je continue la vie sans entrain et sans conviction. On n'appartient plus aux vivants lorsque de tels deuils peuplent votre souvenir" (160), wird sie schließlich über ein Leben schreiben, das die Überlebende zunehmend ratlos und bitter zurückgelassen hat: Die Geschichte der Wiedergutmachung, in ihren innerbehördlichen Abläufen vielfältig erforscht und beschrieben, bedarf dieser erfahrungsgeschichtlichen Korrekturen bis heute.

Eine biografische Miniatur, handwerklich mit höchster Präzision gearbeitet und - wie bei einer mehrfach gebrochenen, vielfach neu begonnenen Biografie kaum anders zu erwarten - erst nach dem Besuch vieler Archive möglich: Wien, Paris und Nizza, die Schweiz und Polen, bundesdeutsche Entschädigungsakten im Landesarchiv Berlin, die Nationalbibliotheken, das Zeitzeugengespräch schließlich, der fast schon sprichwörtliche "carton d'archives jamais examinées". Näher ist lange Zeit niemand mehr dem Anspruch gekommen, den Leserinnen und Leser an historisches Arbeiten stellen dürfen - die Spurensuche, der Überrest, seine narrative Verarbeitung. Dass die Lebensgeschichte der Fryma Idesa - später Françoise - Frenkel auch in deutscher Übersetzung vorläge: Es wäre symbolisch ein Akt der Wiedergutmachung, literarisch zugleich ein Ereignis, historiografisch ein Gewinn, denn in den Regalen sind neben Lucie Varga noch immer viele Plätze frei.


Anmerkungen:

(1) Lucie Varga: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939, Berlin 2023; Peter Schöttler / Lucie Varga: A Central European Refugee in the Circle of the French "Annales", 1934-1941, in: History Workshop Journal 33 (1992), 100-120.

(2) Françoise Frenkel: Rien où poser sa tête, Paris 2015.

Claudia Moisel