Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, 4. Auflage, München: C.H.Beck 2023, 352 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-80049-8, EUR 28,00
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Daniel Schönpflug / Martin Schulze Wessel (eds.): Redefining the Sacred. Religion in the French and Russian Revolutions, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012
Seit dem 24.Februar 2022 sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit den historischen Hintergründen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine befassen. Weitere Werke werden folgen und es ist sicher, dass dieser Krieg künftig zu den wichtigsten Themen der Osteuropäischen Geschichte zählen wird. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen sind sich alle seriösen Untersuchungen darin einig, dass sich die völkerrechtswidrige Aggression nur verstehen lässt, wenn man die imperiale Vergangenheit Russlands sowie ihre Instrumentalisierung durch Vladimir Putin ernst nimmt [1].
Diese Position vertritt auch Martin Schulze Wessel in seiner Studie Der Fluch des Imperiums. Der Anspruch des Buches beschränkt sich indes keineswegs darauf, allein St. Petersburger bzw. Moskauer Perspektiven zu untersuchen und die "Vorgeschichte" des Krieges zu beleuchten. Vielmehr soll hier die "neuzeitliche Dreiecksbeziehung Russlands, der Ukraine und Polens" (14) in den Blick genommen und die imperiale Geschichte in ihrer Verflochtenheit verständlich werden. Damit geht die Darstellung über Andreas Kappelers bedeutende Studie Ungleiche Brüder geografisch hinaus und fragt nach den Wechselwirkungen, die aus der Analyse gegenseitiger Beobachtungen und Reaktionen auf das (vermutete) Handeln der je anderen Seite(n) resultierten. Schulze Wessel kann überzeugend nachweisen, dass das russisch-imperiale Selbstverständnis und Agieren aus der fortwährenden und intensiven Auseinandersetzung mit den westlichen Nachbarn entstanden. Aus diesem Ergebnis leitet er zudem die Forderung ab, Russland müsse das Denken in imperialen Kategorien und Einflusszonen überwinden, um künftig einen angemessenen Platz im Kreise der zivilisierten Nationen einzunehmen.
Auf rund 300 Seiten analysiert der Verfasser russische bzw. sowjetische Ambitionen und Politiken und arbeitet in fünf weitgehend chronologisch angelegten Kapiteln kenntnisreich Genese sowie Dynamiken eines Gebarens in imperialen Kategorien heraus, dass er als konstitutiv für die russisch-sowjetische Geschichte begreift. Dabei interessiert er sich für die immer neue Instrumentalisierung vergangener Ereignisse ebenso wie für die daraus resultierenden Pfadabhängigkeiten und Handlungslogiken. Dass diese Muster indes nur die "Bedingungen für die Möglichkeit des verbrecherischen Krieges [bilden]" (20), ihn aber nicht zwangsläufig machten, versteht sich dabei von selbst.
Aus russischer Sicht konnten Ukrainer und Polen niemals gleichberechtigte Akteure sein, sondern galten als "kleine Brüder" bzw. Bedrohung. Je stärker sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ukrainische und polnische Autonomie- bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen manifestierten, desto stärker radikalisierten sich russische Vorstellungen, in deren Zentrum die besondere Rolle und zivilisatorische "Mission" Russlands standen. Dazu gehörte auch, dass russische bzw. sowjetische Machtpolitiker Polen und Ukrainer allzu oft als "Verhandlungsmasse" begriffen, über deren Köpfe hinweg entschieden werden konnte; häufig im Gleichschritt mit Preußen bzw. Deutschland. Es ist die große Stärke des Buches, diese Zusammenhänge nicht nur systematisch zu entfalten, sondern auch ihren relationalen Charakter zu vergegenwärtigen: Besonders deutlich wird dies beispielsweise in den Passagen über den polnischen Aufstand von 1830/31 als "europäisches Ereignis" (90 f.). Hier führt Schulze Wessel die unterschiedlichen Ereignis- und Rezeptionsebenen in Polen, der Ukraine und Russland zusammen und zeigt, welche langfristigen Folgen sich daraus innen- und außenpolitisch, aber auch mit Blick auf russische Wahrnehmungen Europas ergaben.
Die Darstellung fokussiert sich über weite Strecken auf "klassische" Themen. Im Zentrum stehen machtpolitische Entscheidungen, diplomatische Verwicklungen sowie bewaffnete Konflikte, Aufstände und Kriege. Wichtige Knotenpunkte der gemeinsamen Geschichte werden gekonnt beschrieben und ihre je unterschiedlichen Deutungen in die Erzählung eingeflochten. Zudem geht es immer wieder um schreibende Männer - oft genug Historiker -, die über das historische Schicksal und das wechselseitige Verhältnis "ihrer" Völker nachsannen. Man mag eine solche Form der Geschichtsschreibung für (zu) traditionell halten oder sich etwa wünschen, dass - insbesondere in den Kapiteln zum 18. und 19. Jahrhundert - hin und wieder die Frage aufgeworfen würde, wie es eigentlich jenseits elitärer Kreise um die Relevanz von Imperium, nationalen Hierarchien und konkurrierenden Identitätsentwürfen bestellt war. An einigen Stellen könnte zudem der Ansatz der verflochtenen Geschichte noch konsequenter verfolgt werden: So werden etwa polnische Perspektiven auf den Vertrag von Rapallo 1922 kaum diskutiert. Doch ein Buch, das Jahrhunderte umfasst und zugleich kompakt bleiben will, muss notwendigerweise Akzente setzen.
Dennoch gibt es eine Engführung, die überrascht: Das Bild des Imperiums, das hier entworfen wird, ist zu eng begrenzt. Es geht praktisch ausschließlich um die "inneren" und "äußeren" Peripherien im Westen des Reiches. Die Welt östlich von Moskau spielt keine Rolle. Diese Westfokussierung verstellt jedoch den Blick darauf, dass Russland insbesondere auch deshalb Imperium war, weil es Regionen und Völker in Sibirien, Zentralasien und im Kaukasus seiner Herrschaft unterwarf. Nur vor diesem Hintergrund wird aber das imperiale Selbstverständnis der russländischen bzw. sowjetischen Eliten verständlich, das sich eben nicht allein aus der obsessiven Beschäftigung mit der Ukraine und Polen speiste. Oder anders formuliert: Könnte es nicht sein, dass gerade die tiefgreifenden Differenzerfahrungen russländischer Eliten im Kaukasus und Zentralasien ihre Wahrnehmung der Ukraine sowie der ukrainischen Gesellschaft beeinflusste und veränderte?
Eine weitere Frage richtet sich an den normativen Imperiumsbegriff, der bereits in Titel und Untertitel des Buches formuliert wird. Wo vom "Fluch des Imperiums" und einem "Irrweg in der russischen Geschichte" die Rede ist, gibt es keine Ambivalenz mehr. Dabei hat die "New Imperial History" der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass Imperien - und das Russländische Reich zumal - nicht nur Maschinen der Unterwerfung und Unterdrückung waren, sondern stets auch Räume der Ermöglichung, der sozialen Mobilität und der - oft eng begrenzten - Integration darstellten. Diese Dimension des Imperialen spielt in der Darstellung eine eher untergeordnete Rolle.
Die Fokussierung und klare Thesenbildung haben indes den Vorzug, die tief verwurzelte Destruktivität des russisch-imperialen Agierens klar herauszustellen und als ein wesentliches Kennzeichen russisch-sowjetischer Geschichte zu benennen. Damit wird Der Fluch des Imperiums zu einem wichtigen historiographischen Beitrag für das Verständnis unserer Gegenwart.
Anmerkung:
[1] Vgl. u.a. Serhii Plokhy: The Russo-Ukrainian War. The Return of History, New York 2023; Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine. Hintergründe, Ereignisse, Folgen, München 2022; Anna Veronika Wendland: Befreiungskrieg. Nationsbildung und Gewalt in der Ukraine, Frankfurt/M. 2023.
Robert Kindler