Karsten Krampitz: Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen 1923, Berlin: Verbrecher Verlag 2023, 151 S., ISBN 978-3-95732-567-9, EUR 19,00
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Es ist wichtig, an das Pogrom im Berliner Scheunenviertel vor 100 Jahren zu erinnern. Der Gewaltausbruch gegen Jüdinnen und Juden dauerte vom 5. bis zum 7. November 1923 an und kann, wie Karsten Krampitz schreibt, als "Menetekel" dessen gelten, was sich im Deutschen Reich nach 1933 ereignete. Zudem versuchte nur zwei Tage später die NSDAP, die Macht putschartig zu übernehmen. Am 9. November 1923 führte Adolf Hitler in München zum ersten Mal einen Staatsstreich an, der damals noch scheiterte. Die Studie Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die Berliner Ausschreitungen ist nicht das erste Buch, das die Ereignisse im Berliner Scheunenviertel 1923 in Erinnerung rufen will. Der Journalist Eike Geisel hat 1981 mit dem Buch Das Scheunenviertel an die von den Nationalsozialisten vernichtete jüdische Tradition in der Hauptstadt erinnert. Der Historiker Reiner Zilkenat hat in dem Band Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlins 1994 auch das Ausmaß der Gewalt 1923 beschrieben. Trotzdem herrscht nach wie vor oft noch das Bild vor, der Hass gegen Jüdinnen und Juden wäre erst mit dem ungeheuren Aufstieg der NSDAP Ende der 1920er Jahre zu einer realen Gefahr geworden.
Karsten Krampitz' kleines Buch baut auf einem besonderen Archivfund auf. Im Nachlass des damaligen preußischen Innenministers Carl Severing von der SPD wurden "neun Gedächtnisprotokolle von Opfern des Pogroms" gefunden, außerdem ein Augenzeugenbericht aus der Feder von Alfred Berger, dem damaligen Generalsekretär des Arbeiterfürsorgeamts der jüdischen Organisationen Deutschlands. Diesen Berichten zufolge lief die Gewalt in zwei Wellen ab. In der zweiten, ab dem Abend des 6. November waren die Überfälle auf Passantinnen und Passanten und die Plünderungen von Privatwohnungen und Geschäften, so Krampitz, "von völkisch-nationalen Kreisen organisiert" (128). Damit widerspricht seine Darstellung der von Dirk Walter, der in seiner Studie Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik bezweifelt hatte, dass die Gewalt von "gewerbsmäßige[n] Agitatoren" geplant worden sei [1]. Die Angriffe blieben nicht auf das Scheunenviertel beschränkt, sondern weiteten sich am zweiten Tag auf die Stadtteile Wedding und Prenzlauer Berg aus. Es ist seit Langem bekannt, dass die Polizei 1923 erst mit Verspätung einschritt. Nach den von Krampitz dokumentierten Fällen bemühte sie sich auch nicht, die Opfer zu schützen. Ein Gastwirt aus der Grenadierstraße gab kurz nach den Plünderungen seines Lokals zu Protokoll: "Polizeibeamte waren zugegen, haben die Plünderer aber nicht verhindert" (127).
Diese Untätigkeit war auch durch Ressentiments verursacht. Eine nachträgliche Bewertung durch die Polizei wirft ein Licht darauf, wie verbreitet antisemitische Vorstellungen innerhalb der Sicherheitsbehörden gewesen sind. Am 7. November 1923 kam ein Polizeibericht zu dem Schluss, der "Ursprung der Plünderungen" sei "auf das Verhalten der Ostjuden in der Grenadierstr. und Dragonerstr. zurückzuführen" (116). Entsprechend blieb die Polizei in der Weimarer Republik nicht nur untätig, wenn es um die aus Osteuropa und Russland stammenden Jüdinnen und Juden ging. Drei Jahre vor dem Scheunenviertelpogrom, im Frühjahr 1920, führte sie in den Quartieren, die von den damals als "Ostjuden" bezeichneten Menschen bewohnt wurden, Razzien durch und verschleppte mehr als 700 von ihnen in Lager, die, wie Krampitz betont, zu der Zeit als "Konzentrationslager" bezeichnet wurden. Auch in diesem Fall zitiert er ausführlich aus Erinnerungen von ehemaligen Inhaftierten, die die gesetzlose Schikane und Gewalt deutlich machen.
Ein Schwerpunkt des Buchs liegt auf der Rolle der SPD. Krampitz beleuchtet den "wachsende(n) Nationalismus" in der Weimarer Republik am "Beispiel führender SPD-Politiker", denn keine andere Partei habe die erste deutsche Demokratie in ihrer Anfangszeit "derart geprägt" (17). Zum deutschen Nationalismus gehört integral auch der Antisemitismus. Der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Wilhelm Richter, der im November 1923 "für den Schutz der im Scheunenviertel lebenden Menschen hauptverantwortlich" war, schrieb drei Jahre zuvor: "Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht um lästige, sondern höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen" (65).
Auf 152 Seiten lassen sich nicht alle Faktoren angemessen darstellen, die zum antisemitischen Gewaltausbruch 1923 geführt haben. Allerdings beginnt Krampitz' Büchlein mit einem unverständlichen Fehler. Er bezeichnet das Scheunenviertelpogrom als "das einzige" in den Jahren der Weimarer Republik. Dabei ist - neben den antisemitischen Krawallen auf dem Kurfüstendamm 1931, die nach Einschätzung der Historikerin Irmtraud Ubbens "die brutalsten antisemitischen Ausschreitungen" waren, die Berlin "in der Weimarer Republik erlebte" [2] - noch ein weiteres zu nennen. Als nach den Wahlen im September 1930 der Reichstag am 13. Oktober eröffnet wurde, versammelten sich zunächst mehrere Tausend NSDAP-Anhängerinnen und -Anhänger vor dem Gebäude. Ein Teil der Menge strömte dann in Richtung Potsdamer Platz und Leipziger Straße und randalierte in Geschäften und Kaufhäusern, von denen, wie Dirk Walter aus einem Polizeibericht zitiert, "offenbar angenommen wurde, daß sie mit jüdischem Kapital arbeiten" [3]. Die kommunistische Presse titelte 1930: "Der erste Pogrom in Berlin" [4]. Demnach hatte die KPD wie auch die KPD-Opposition das Scheunenviertelpogrom sieben Jahre zuvor schon wieder vergessen. Karsten Krampitz macht nun den umgekehrten Fehler. Gerade im Kontext seiner Analyse ist nicht verständlich, warum er die antisemitische Gewalt am 13. Oktober 1930 unterschlägt.
Anmerkungen:
[1] Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. Bonn 1999, 152.
[2] Irmtraud Ubbens: Zur Presseberichterstattung über die Nazi-Krawalle auf dem Kurfürstendamm am jüdischen Neujahrstag 1931 und die nachfolgenden Gerichtsprozesse, in: Michael Nagel / Moshe Zimmermann (Hgg.): Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte/Five hundred Years of Jew-Hatred and Anti-Semitism in the German Press. Bd. II. Bremen 2013, 645-670, hier 645.
[3] Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt, 209.
[4] Olaf Kistenmacher: Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik, Freiburg im Breisgau / Wien 2023, 118.
Olaf Kistenmacher