Thomas Kunze / Andreas Hilger / John Zimmermann (Hgg.): Bis in den Krieg: Die Außenpolitik der UdSSR 1938/39. Dokumente aus russischen Archiven, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2022, LX + 750 S., ISBN 978-3-506-79186-3, EUR 69,00
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Andreas Hilger: Sowjetisch-indische Beziehungen 1941-1966. Imperiale Agenda und nationale Identität in der Ära von Dekolonisierung und Kaltem Krieg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
"Bis in den Krieg", heißt die anzuzeigende Quellenedition, die von drei Herausgebern, zwei Bearbeitern, sechs Übersetzern (mit teils anderweitigen Funktionen wie Registererstellung und Überarbeitung) sowie drei weiteren Personen für Koordination und Korrekturen verantwortet wird. Eine Person, die noch in der ersten Buchankündigung genannt wurde, fehlt jedoch: Der vierte Mitherausgeber, ein russischer Funktionsträger, hat in beiderseitigem Einverständnis auf die Nennung seines Namens verzichtet; der Grund dafür dürfte im russischen Krieg gegen die Ukraine zu suchen sein. Was sind das für finstere Zeiten, so muss man mit Bertold Brecht fragen, wo eine Auseinandersetzung über Geschichte fast ein Verbrechen ist?
Brecht beendete sein Gedicht "An die Nachgeborenen" 1938, und genau mit diesem Jahr setzt die Edition ein. Abgedruckt werden, mit einer Ausnahme, Dokumente der Jahre 1938/39 aus einer Vielzahl russischer Archive. Einige der Quellen sind deutscher Provenienz aus russischen Archiven (insgesamt 33 Dokumente), so auch das als Ausnahme bezeichnete Dokument, das sogenannte Hoßbach-Protokoll vom 5. November 1937, ein schon häufig veröffentlichtes Dokument, das auch in Abschrift im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation vorliegt. Es wurde als Auftaktdokument sicherlich deshalb abgedruckt, um den ersten Satz der kurz gehaltenen Einleitung zu untermauern, die vor allem die Entstehungsgeschichte der Edition: "Hitler wollte den Krieg." (XV) Dem Hoßbach-Protokoll folgen 271 weitere Dokumente, die geordnet sind nach a) sowjetische Perspektiven und Politik, b) deutsche Politik und c) europäische Politik im Spiegel von sogenannten Beutedokumenten. Die sowjetische Perspektive mit 222 Dokumenten ist dabei mit den weitaus meisten Quellen vertreten; die europäische Perspektive, insbesondere Berichte französischer und polnischer Provenienz, umfasst 17 Dokumente. Den Dokumenten vorangestellt sind ausführliche Regesten, leider ohne Datumsangabe, was eine praktische Handhabung deutlich erschwert. Am Schluss wurde eine fein ausgewählte Anzahl von Faksimiles reproduziert, die ein anschauliches Bild der unterschiedlichen Quellen vermitteln. Daran schließen sich Abkürzungsverzeichnis, Personen- und Ortsregister sowie ein Archivverzeichnis an. Letzteres ist überaus hilfreich, um den Radius der Bestände, denen die Quellen entstammen, einzuschätzen. Denn die Auswahl der Dokumente erfolgte nicht aus den Archiven selbst, sondern aus den in den Jahren 2018 und 2019 von der Russischen Archivagentur (Rosarchiv) und dem Russischen Staatlichen Militärarchiv im Original online gestellten großen Dokumentensammlungen, die über 1000 Dokumente umfassen und immer noch recherchierbar sind. [1] Etliche dieser Quellen wurde jedoch auch dort nicht zum ersten Mal veröffentlicht, sondern sind in verschiedenen sowjetischen und russischen Dokumentenpublikationen bereits gedruckt, was indes nicht ausgewiesen wird. Daraus resultiert auch manche Doppelung: 38 Dokumente sind ebenfalls im dritten Band einer Quellenedition zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen erschienen. [2] Als deren Mitherausgeberin erachte ich dies gleichwohl nicht als problematisch; im Gegenteil, es ergibt sich dadurch die reizvolle Möglichkeit, sich mit der großen Herausforderung der Übersetzung von Quellen zu befassen. Insgesamt stehen diese beiden Quelleneditionen aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung in einem fruchtbaren Austausch.
Doch was ist der Inhalt der Dokumente? Die aus Anlass des 80. Jahrestags entstandenen digitalen Dokumentensammlungen geben es vor: Auf der einen Seite steht die Gefahr eines Krieges im Jahr 1938 durch Deutschlands Bedrohung der Tschechoslowakei bis zur Münchener Konferenz im Zentrum. Die entsprechenden Kapitel heißen "Brennpunkt Tschechoslowakei, November 1937 bis Juli 1938" und "Eskalation und Münchner Konferenz, August bis September 1938". Auf der anderen Seite sind die unterschiedlichen Bedrohungen des Jahres 1939 und die damit einhergehenden europäischen Verhandlungen, ob und wie die Kriegsgefahr zu bewältigen sei, Motive der Korrespondenzen. In einem letzten Kapitel werden die ersten Kriegsmonate von September bis November 1939 thematisiert. Es dominieren die Berichte von den und die Anweisungen an die sowjetischen Diplomaten in Prag, London, Paris, Berlin und, seltener, Warschau. Sie werden ergänzt durch grundlegende militärpolitische Einschätzungen von sowjetischen Militärs. Es finden sich auch Berichte von in der UdSSR akkreditierten Militärattachés sowie von sowjetischen und westlichen Militärattachés in anderen Staaten, ferner geheimdienstliche Informationen verschiedener Seiten oder Auszüge aus Reden Adolf Hitlers oder Anweisungen des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop.
Trotz der zeitlichen Eingrenzung und des doch vergleichsweise großen Umfangs ist die Einordnung einer Reihe von Quellen nicht leicht zu treffen. So beginnt die Edition mit einem Bericht über die Schließung deutscher Konsulate in der UdSSR, die jedoch nicht allein deutsche konsularische Vertretungen betraf, sondern auch diejenigen anderer Staaten. War das eine Maßnahme aufgrund des schon vor 1938 wütenden innenpolitischen Terrors in der UdSSR oder wurde sie durch die immer angespanntere außenpolitische Lage verursacht? Beides war natürlich der Fall; insofern kommt der Edition auch das große Verdienst zu, eine Korrelation zwischen sowjetischer Innen- und Außenpolitik herzustellen, die in der gegenwärtigen Historiographie über die Stalin-Zeit meist vernachlässigt wird. Schwer zu beurteilen bleibt, wie die einzelnen Einschätzungen der jeweiligen Berichterstatter zustande kamen, da die Gegenüberlieferung fehlt. Hätte die UdSSR der Tschechoslowakei Beistand geleistet, wenn Frankreich dem Kleinsten der Kleinen-Entente-Staaten bei der Verletzung seiner territorialen Integrität zu Hilfe gekommen wäre? Und hätten die Verhandlungen mit den Westmächten nach der Grundsatzentscheidung Stalins vom April 1939, mit Deutschland zusammenzugehen, noch eine Chance gehabt?
Auf alle diese Fragen geben die Dokumente nur Teilantworten. Denn die Positionen werden ganz überwiegend von einer Seite, aus sowjetischer Perspektive, wiedergegeben und sind daher im wahrsten Sinne des Wortes einseitig. Dass die Gegenseite so geringfügig und durch die Heranziehung der "Beutedokumente" eher willkürlich dokumentiert ist, bleibt vertretbar, liegen doch für die meisten der hier beteiligten Staaten staatliche Quelleneditionen jener Jahre vor, die als Referenzwerke genutzt werden können. Es war bei diesem Zuschnitt der Veröffentlichung offensichtlich nicht beabsichtigt, die passende Gegenüberlieferungen für die Kommentierung zu recherchieren. Aber ein schwerwiegenderes Problem der Einseitigkeit bleibt: Die Auswahl der Quellen erfolgte von staatlicher russischer Seite. Die deutschen Herausgeber haben aus einer schon bestehenden Selektion eine weitere Auswahl getroffen. Nun trifft jede Quellenauswahl, die das eigene, möglicherweise schon verfestigte Geschichtsbild nicht bestätigt, grundsätzlich auf Misstrauen. Andererseits existiert seit den 1990er Jahren gerade auch für diese Epoche eine Fülle an publizierten sowjetischen Quellen, sodass ein staatlich verordnetes Geschichtsbild eigentlich keine Chance mehr in der Wissenschaft haben dürfte. Stärker als solch ein vielleicht übertriebener Argwohn tritt das Verdienst in den Vordergrund, für nicht sprachkundige Historiker diese Quellen erschlossen zu haben. Sie bereichern das weithin sehr stereotype Bild von sowjetischer Außenpolitik ungemein, sei es über die Informiertheit und die Art der Kommunikation der sowjetischen Vertretungen mit der Zentrale in Moskau, sei es über die Abstimmungen und die Machtverhältnisse der Volkskommissariate in der UdSSR und ihre Korrespondenz mit Stalin beziehungsweise dem Politbüro. Die Dokumente betten die sowjetischen Interessen ein in ein gesamteuropäisches Beziehungsgeflecht, in dem alle Staaten in Verfolgung ihrer ureigenen Interessen - auch in Konfrontation mit den jeweiligen innenpolitischen Beschränkungen - die große Kriegsgefahr zwar gesehen, aber keine Instrumente zu ihrer Bewältigung finden konnten. Und in Zeiten, in denen wir wieder größere Schwierigkeiten haben, russische Archive aufzusuchen, kann man nur dankbar sein für alle Quellen, die uns zugänglich gemacht werden. Jedes Puzzleteil zur Erklärung der sowjetischen Vorkriegsdiplomatie soll willkommen geheißen werden.
Anmerkungen:
[1] Nakanune i posle Mjunchena. Archivnye dokumenty rasskazyvajut. K 80-letiju "Mjunchenskogo sgovora" (Am Vorabend von und nach München. Archivdokumente erzählen. Zum 80. Jahrestag des Münchener Abkommens) http://munich.rusarchives.ru
1939 god. Ot "umirotvorenija" k vojne (Das Jahr 1939. Von der "Beschwichtigung" zum Krieg) http://1939.rusarchives.ru.
[2] Deutschland und die Sowjetunion. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 3: April 1937 bis August 1939, hrsg. von Sergej Slutsch / Carola Tischler unter Mitarbeit von Lothar Kölm, Berlin/Boston 2023.
Carola Tischler