Rezension über:

Daniel Trabalski: Weg vom Fenster. Die Staublunge der Ruhrbergleute zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, betrieblicher Regulierung und gesellschaftlichem Vergessen in der Bundesrepublik (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Beiheft 258), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2023, 241 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13355-5, EUR 62,00
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Rezension von:
Nils Löffelbein
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Nils Löffelbein: Rezension von: Daniel Trabalski: Weg vom Fenster. Die Staublunge der Ruhrbergleute zwischen wissenschaftlicher Entdeckung, betrieblicher Regulierung und gesellschaftlichem Vergessen in der Bundesrepublik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38501.html


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Daniel Trabalski: Weg vom Fenster

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Schwere und häufig tödliche Lungenkrankheiten werden heutzutage zumeist als Folge des Rauchens, und in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch als Konsequenz starker Umweltbelastung in urbanen Ballungszentren wahrgenommen. Die sogenannte Staublunge, fachterminologisch Silikose, der allein in Westdeutschland in den schwerindustriellen Boom-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg abertausende Bergmänner zum Opfer fielen und die bis in die 1970er Jahre etwa 50.000 registrierte Berufsinvaliden hervorbrachte, ist heute hingegen nahezu vergessen. Verursacht wurde die Quarzstaub-Lungenerkrankung durch das Inhalieren von Staub mit kristalliner Kieselsäure, die in den Montanregionen durch Arbeit unter Tage massenhaft freigesetzt wurde. Der Bergmannsberuf wurde so buchstäblich zu einer lebensgefährdenden Tätigkeit, galt die Erkrankung doch als unheilbar und führte oftmals zu jahrelangem, sich stetig verschlimmerndem Siechtum der Betroffenen, an dessen Ende nicht selten ein qualvoller Tod durch Ersticken, Herzversagen oder Tuberkulose stand. Der gefürchtete "Bergmannfluch" bildete somit in vielerlei Hinsicht die elendsgeprägte Schattenseite hinter der glänzenden Oberfläche des sogenannten bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders.

Daniel Trabalski widmet sich in seiner 2023 erschienenen Dissertation erstmals der Geschichte dieser "tödlichste[n] aller Berufskrankheiten" (9), die in der bundesdeutschen Erinnerungskultur kaum Spuren hinterlassen hat und auch geschichtswissenschaftlich für die Zeit nach 1945 noch kaum untersucht wurde. Der Autor wählt als Zugang einen primär wissenshistorischen Ansatz, um zu zeigen, wie die zuvor als Bergmannsschicksal gedeutete Lungenkrankheit in den Nachkriegsjahrzehnten medizinisch als Silikose definiert, erforscht, ärztlich behandelt und ihre Folgen schließlich betrieblich reguliert und wohlfahrtsstaatlich abgefedert wurden. Zentral geht es also um die Frage nach der Herstellung von Silikose-Wissen, dessen Zirkulation in verschiedenen Diskurskontexten sowie die konkreten Auswirkungen der neuen Erkenntnisse auf den Arbeitsschutz und das Versicherungswesen. Hierzu spannt der Autor in vier thematisch angelegten Hauptkapiteln ein beeindruckendes Panorama verschiedener Perspektiven auf das Thema, um ganz gezielt die Akteursgruppen in den Blick zu nehmen, die an der letztlich erfolgreichen "versicherheitlichende[n] Einhegung" (225) der schwerindustriellen Berufskrankheit beteiligt waren: Neben den behandelnden und forschenden Medizinern also insbesondere Interessensvertretungen, Politiker, Sozialexperten, Unternehmen, Medienvertreter sowie die Arbeiterschaft selbst. Methodisch schließt die Studie unter Rückgriff auf Arbeiten von Michel Foucault, François Ewald und Lutz Raphael an die zuletzt rege geführte Diskussion um eine staatliche Versicherheitlichung beruflicher, ökonomischer und lebensweltlicher Risiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, die mit einer fortschreitenden Wissensgenerierung und -verbreitung einherging. Unverständlich bleibt, warum der Autor in seiner Einleitung entgegen allen geschichtswissenschaftlichen Gepflogenheiten nicht den von ihm ausgewerteten Quellenkorpus näher erläutert.

Das erste Kapitel beleuchtet zunächst die sich ab den 1950er Jahren entfaltenden Debatten zwischen der organisierten Bergarbeiterschaft und den Unfallversicherungsunternehmen, in denen nicht nur heftig um eine angemessene sozialpolitische Entschädigung der Krankheitsfolgen gerungen, sondern auch die Stellung der Arbeiterschaft und ihrer Opfer in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verhandelt wurde. In der medialen Auseinandersetzung rückte dabei auch das Schicksal der Bergmänner selbst stärker in den Fokus der Öffentlichkeit, wobei die Silikose-Patienten hier zumeist als macht- und wehrlose Opfer ihrer Arbeitsumstände erschienen, während Ärzteschaft und technische Neuerungen als allmächtige Heilsbringer dargestellt wurden, deren Wirken allein über Leben und Tod der Betroffenen entschied. Ab Mitte der 1960er Jahre, als die Silikose-Gefahr als beherrschbar eingeschätzt wurde, verschwand das Thema dann sukzessive aus den Schlagzeilen der Medienberichterstattung und damit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit.

Die darauffolgenden Abschnitte widmen sich dann der Frage nach der Wissensgenese und des Austauschs von wissenschaftlichen Erkenntnissen rund um die Silikose nach 1945 - ein Feld, das von Beginn an durch enge Kooperationen und Verflechtungen von Forschungsinstituten, Bergbauorganisationen und Unternehmen geprägt war. Paradoxerweise trug hier letztlich gerade die zunächst weitgehend erfolglose Erforschung der medizinischen Ursachen der Staublunge, die man lange in der konstitutionellen Veranlagung der Erkrankten oder in individuellen Verhaltensmustern am Arbeitsplatz vermutete, zur Eindämmung der Berufskrankheit ab den 1960er Jahren bei. So setzten die Verantwortlichen in der Folge stärker auf präventiven Arbeitsschutz und ein ausgefeiltes Risikomanagement, um das gesundheitliche Gefahrenpotential des Untertagebergbaus einzudämmen, etwa durch die Befeuchtung der Kohleschächte, um die Staubbildung zu verhindern oder die Entwicklung risikominimierender Bohrhämmer. Auch die Einführung neuer Gesetze und Bestimmungen wie die Berufskrankheitenverordnung aus dem Jahr 1952 sowie sozialstaatliche Hilfen trugen zu einem Verschwinden der Krankheit bei.

Eine besondere Stärke des Buchs besteht darin, dass Trabalski die Bergarbeiterschaft nicht nur als reine Objekte wissenschaftlicher und sozialtechnischer Expertise in den Blick nimmt, sondern durch die Sichtung von Einzelfallakten auch deren individuelle Wahrnehmungen und Deutungen miteinbezieht. So geht es im fünften Kapitel um die persönlichen Erfahrungen der Bergleute und ihrer Familien, die sich zum Teil deutlich von der optimistischen Heilungs- und Fortschrittsrhetorik der Spezialisten unterschieden. So sahen sich die zuständigen Institutionen stets dem Vorwurf der Bergarbeiterschaft und ihrer Organisationen ausgesetzt, die gesundheitsgefährdende Arbeit unter Tage nur unzureichend zu entschädigen. Gerade bei den jüngeren Arbeitergeneration lässt sich daher im Laufe der Jahre eine Abkehr vom gefährlichen und unattraktiven Bergmannsberuf beobachten, wohingegen bei den älteren Arbeitern noch der traditionelle Berufsstolz mit seinen proletarischen Idealen von opferbereiter Härte und Männlichkeit überwog.

Insgesamt bietet die glänzend geschriebene und sinnvoll strukturierte Untersuchung weit mehr als eine reine Wissensgeschichte der "steinernden Lungen" (28). So wird durch die multiperspektive Betrachtung des Untersuchungsgegenstands nicht nur die medizinische und sozialstaatliche Bewältigung einer Berufskrankheit analysiert. Der Autor gelangt auch zu erhellenden Einsichten über die Entwicklung der Sozial- und Gesundheitsfürsorge des westdeutschen Wohlfahrtsstaats nach 1945. So attestiert Trabalski der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Silikosebekämpfung einerseits durchaus einen demokratisierenden Effekt, da Fragen der Ursachenerforschung, Diagnose, Behandlung, Prophylaxe und Entschädigung erstmals an externe und damit tendenziell objektive Spezialistengruppen sowie Organisationen delegiert wurden. Anderseits blieb das Feld der Wissensgenerierung und -distribution sowie der betrieblichen Vor- und Nachsorgemaßnahmen stark hierarchisch organisiert und räumte der Arbeiterschaft selbst kaum ein Mitspracherecht ein. Die in der Einleitung aufgeworfene Frage, warum die Staublunge trotz ihrer zeitweilig hohen sozialpolitischen Relevanz in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur keinen Platz gefunden hat, beantwortet das Buch am Ende allerdings nicht.

Nils Löffelbein