Rezension über:

Anna-Victoria Bognár: Der Architekt in der Frühen Neuzeit. Ausbildung - Karrierewege - Berufsfelder (= Höfische Kultur interdisziplinär; Bd. 2), Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2020, 568 S., https://doi.org/10.17885/heiup.580, ISBN 978-3-947732-78-4, EUR 69,90
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Rezension von:
Michael Groblewski
Dipartimento di Architettura, Design e Urbanistica, Università di Sassari
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Groblewski: Rezension von: Anna-Victoria Bognár: Der Architekt in der Frühen Neuzeit. Ausbildung - Karrierewege - Berufsfelder, Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/34298.html


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Anna-Victoria Bognár: Der Architekt in der Frühen Neuzeit

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In der Tat ist die vorliegende monumentale Publikation (566 Seiten) in thematischer und methodischer Hinsicht "eher ungewöhnlich" (5) im Fach Kunstgeschichte, wie die Autorin vorneweg bekennt. Ihr liegt Ihre 2018 an der Universität Stuttgart angenommene Dissertation zu Grunde, die, ursprünglich angeregt von Salvatore Pisani, von Klaus Jan Philipp betreut wurde. Die "kulturwissenschaftlichen Ansätze" (5) sind nicht zuletzt durch Aleida und Jan Assmann beeinflusst worden.

Der Titel bezeichnet zunächst das Untersuchungsobjekt, den Architekten, und die Frühe Neuzeit (1495-1806) als den auf das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bezogenen Untersuchungszeitraum. Im Untertitel gibt Bognár an, dass es ihr explizit um den Architekten selbst und seine gesellschaftliche Einbindung, um eine dezidiert (kultur-)soziologische Fragestellung geht. Dem folgt die Auswahl der Quellen, die sie über bereits publizierte biographische Informationen hinaus in administrativen Akten, wie individuellen Bestallungen und Instruktionen, übergeordneten Gesetzen und Ordnungen erschließt und analysiert. Sie geht dabei sehr systematisch, gleichsam naturwissenschaftlich vor, erstellt ein durchaus komplexes, auf quantitativer Basis demonstrativ standfest errichtetes Faktengerüst. 62 Tabellen, 4 Diagramme, 16 Übersichten und 7 Schemata übernehmen an Stelle von kunsthistorisch üblichen Abbildungen die Rolle illustrativer Veranschaulichung. Sie setzen jedes Mal nicht nur die Definition einer Fragestellung, sondern auch die minutiöse Auflistung datentechnisch aufbereiteter relevanter Informationen voraus, die in der Sekundärliteratur vor allem aber in den Aktenbeständen der mehr als 20 konsultierten Archiven in Deutschland und Österreich gefunden wurden. Über deren Aussagewert ließe sich sicher genauso streiten wie über manche grafische oder fotografische Illustration, die traditionell der anschaulichen Unterstützung wissenschaftlichen Argumentationen dienen. In jedem Fall aber muss man den Fleiß, das tadellos systematische methodische Vorgehen, das unvorstellbare Durchhaltevermögen der Autorin bewundern mit dem es ihr gelingt, die administrativen Bedingungen des Berufsstandes, man könnte auch sagen, die Handlungseinschränkungen des dienstleistenden Architekten im Einzelnen und in ihrer Variationsbreite nachzuweisen.

Es erscheint folgerichtig, dass sich der Fokus auf den "Architekten" in den höfischen und städtischen Bauämtern signifikant verengt und sich automatisch über seine künstlerische Qualifikation die vorrangige Eignung für eine Position in der Bauverwaltung legt. So kann Bognár beispielsweise herausarbeiten, dass auf solche repräsentative und existenzsichernde Positionen nicht nur einschlägig qualifizierte Handwerker gelangten, sondern auch professionell wenig qualifizierte Persönlichkeiten aus dem Adel und dem Militär gesetzt wurden, die sich anderweitig verdient gemacht hatten (185-205: Wege ins Bauamt). Staatliche Großbaustellen wie Stadtmauern, Festungen, Residenzen, Rathäuser und Verwaltungsbauten bedurften zwar funktionsorientierter Erfahrung in der jeweiligen Bauleitung vor Ort, aber auch der Fähigkeit kommunikativer Vermittlung zum obersten Bauherren. Es ist diese alltägliche Realität einer Bauorganisation, die die Autorin mit der Schwerpunktsetzung auf die Institution des Bauamtes (185-384) in den Blick nimmt, wobei sie zugleich berücksichtigt, dass sich darin die gesellschaftliche Stellung von Architekten oder Baumeistern an den Höfen und in den Städten im Reich grundsätzlich z.B. von denen in Italien unterscheidet, wo die Nähe zum freien selbstständigen Künstlertum viel größer war (380-384). Ob sich damit in der Frühen Neuzeit, wie im Resümee ausgeführt, die Emanzipation des Architekten vom Handwerk durch Verwissenschaftlichung und damit schließlich auch die vom Dienstherren begründen lässt, wage ich in Frage zu stellen. Der altbekannte Terminus der Nobilitierung des Künstlers und damit eben auch des sich als Künstler verstehenden Architekten trifft es in diesem Zusammenhang vielleicht besser; er ist umso plausibler, weil viele bedeutende Maler und Bildhauer in Europa nicht nur gelegentlich als entwerfende Architekten tätig waren, sondern auch Positionen als leitende Architekten an Großbaustellen einnahmen, und sich auf der Seite der Bauherren Adlige, manchmal sogar Monarchen als Künstler verstanden, als Dilettanten die künstlerische Tätigkeit nicht als Arbeit, sondern als Genuss definierten und das Privileg persönlicher Freiheit weniger in politischer Entscheidungsmacht als in Wissenschaft und Kunst fanden. Man denke diesbezüglich nur an das sinnfällige Porträt Federicos da Montefeltre mit seinem Sohn Guidobaldo (1475, Urbino) oder an Richard Boyle's III. Earl of Burlington faszinierendes Chiswick House. Bognár bietet eine Vielzahl punktueller Einblicke in die Bauämter und provoziert damit auch Fragen nach der Rolle dieser Institution, die auf andere Weise, aber nicht weniger paradigmatisch schon 1953 Wolfgang Braunfels (Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana) gestellt hat. Die Transkription und der Abdruck einer Auswahl besonders aussagekräftiger Urkunden im Anhang (409-481) ist von großem Wert und erhebt die wissenschaftliche Leistung von Anna-Victoria Bognár zusammen mit dem ausführlichen Quellenverzeichnis und der Auflistung relevanter Sekundärliteratur zu einer basislegenden Forschung und einer handbuchartigen Publikation.

Wenn im Anschluss an diese Wertschätzung und Empfehlung zur Konsultation des Buches unter den vorgegebenen Aspekten der professionellen Ausbildung, der persönlichen Eignung und den spezifizierten Tätigkeitsprofilen des Architekten, nun einige Fragen aufgeworfen werden, so soll das das Verdienst der Autorin keineswegs schmälern.

Unser Fach hat die Architekturgeschichte als eigenständige Gattung in die Kunstgeschichte integriert. Das ist zunächst eine methodische Entscheidung, indem wir die kreative Leistung des architektonischen Entwurfs hervorheben und neben die daraus resultierenden, traditionell in der Baugeschichte in den Blick genommenen, technischen Innovationen stellen. Die philosophische Reflexion und der experimentelle Umgang mit dem gebauten Raum als gesellschaftlichem Handlungsraum stehen allerdings in keiner Bestallungsurkunde. Das gilt auch für das persönliche, gelegentlich freundschaftliche Verhältnis zum übergeordneten Souverän und Bauherren, das, von Francis Haskell auf die griffige Formel 'Patrons and Painters' gebracht, in der Kunsthistoriografie längst eine Rolle spielt, da es das Überschreiten festgelegter Konventionen prinzipiell ermöglicht und damit Kunst als kreativen Akt zulässt; das relativiert die vermeintlich verlässliche Faktizität einer archivalischen Dokumentation und erfordert eine unverzichtbare Quellenkritik. Wer zahlt bestimmt, das gilt für die Architektur noch mehr als für die bildenden Künste. Und die erheblichen Kosten für die Erstellung des (Bau-)werks werden auch in der Architekturtheorie der frühen Neuzeit als Problem thematisiert. Dagegen steht das Faszinosum der Kunst, des bildhaft veranschaulichten Entwurfs; egal ob in einem Modell, einer Zeichnung oder auch nur in einer literarischen Fassung präsentiert, die erste eigentliche Idee eines Kunstwerks bekommt einen eigenen im Sinne des Wortes originalen Wert, der von Vasari mit den Begriffen Invenzione und Disegno gefasst wurde. Die Entwurfsidee bleibt trotz vielfacher Modifikationen in der Gestalt des realisierten Monumentes erhalten, selbst wenn das architektonische Decorum durch eine dominante bildhafte Ausstattung überlagert, aber anschaulich bereichert und in zeremonialer Nutzung erlebbar wird.

Eine Studie, die das Monument selbst außer Acht lässt, kann beim Verstehen der Wirksamkeit des "Werks" des Architekten (egal, ob er sich nun Architekt oder Baumeister nennt) nur partiell helfen.

Architektur ist selbstverständlich der jeweiligen Funktion verpflichtet. Die kreative Idee einer integrierten Botschaft, die gestische Bildhaftigkeit eines Bauwerks, das Erzeugen einer erlebbaren Atmosphäre heben jedoch die faktischen Raumgrenzen auf, machen die Übergänge zwischen Realraum und Vorstellungsraum fließend, stellen ein Bauwerk nicht nur in eine räumliche Umgebung, sondern auch in einen geistigen Kontext.

Die Beachtung der Kontextualität eines Kunstwerks sollte sein Verständnis vertiefen und bereichern, aber nicht seine Einzigartigkeit und Faszination banalisieren. Kunstgeschichte ist daher grundsätzlich etwas Anderes als Künstlergeschichte, und bleibt, auch wenn wir die Autonomie der Kunst längst nicht mehr behaupten und die immanente Entwicklung von Formalstilen nicht mehr zum Ordnungsprinzip unseres fachlichen Phänomenbereichs machen, eine Auseinandersetzung mit dem Werkbestand menschlicher Zivilisation. Hierbei unterstreichen die Studien von Anna-Victoria Bognár auf nachdrückliche Weise die Frage nach dem Agens zivilisatorischen Fortschritts: liegt er in der Fesselung individueller, als Freiheit verstandener Kreativität durch administrative Normen und Kontrolle oder ist es gerade die revolutionäre Kraft einer im Kunstwerk veranschaulichten Gesellschaftskritik? Ihr "Lehrer" (5), Salvatore Pisani, hat in diesem Zusammenhang auch das vermeintlich in größtmöglicher entwerferischer Freiheit entstandene eigene Haus des Architekten thematisiert. Die Suche nach einem von Einflussnahmen freien Gebäudes ist jedoch ein illusionäres Konstrukt als Grundlage eines kunsthistorischen Narrativs und insofern ein postmoderner Rückfall, der sich m.E. eben nicht als Konsequenz des provokativ behaupteten Endes der Kunstgeschichte durch Hans Belting legitimieren lässt.

Auf ihre Weise sind auch Bognár's disziplinübergreifenden Studien zu Lebenswirklichkeit und Arbeitsbedingungen von "Architekten" im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im positiven Sinne provokant. Ihre auf Quellenstudien basierenden, vielfältige Aspekte differenzierenden Analysen fordern geradezu auf, die Wirkungsmacht des Monuments selbst darauf zu beziehen und verstärkt wieder in den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in unserem Fach zu stellen. Diese unstrittig vorhandene Wirkungsmacht dokumentiert sich nicht nur in historischen, sondern ist auch fassbar in gegenwärtigen Rezeptionen und sollte nicht als kunstsoziologische Rezeptionsgeschichte gesondert behandelt, sondern als integrativer Bestandteil des als Monument bewerteten Kunstwerks gesehen werden; dessen Erklärung sollten wir nicht elitär im Sinne eines intellektuellen Dominanzverhaltens kultivieren, sondern selbstkritisch als offenen Diskurs führen.

Michael Groblewski