Christian Buckard: Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters, Berlin: Berlin Verlag 2023, 448 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-8270-1449-8, EUR 28,00
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In der 2023 veröffentlichten Biografie "Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters" beleuchtet Christian Buckard in 30 Kapiteln das Leben und Werk des berühmten Prager Journalisten und Schriftstellers. Kischs Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt und seine Verbindungen zu berühmten Zeitgenossen wie Franz Kafka, Joseph Roth oder Billy Wilder prägen bis heute den Mythos des "Kaffeehaus-Conferencier" (60). Kisch bediente sich im Interesse der Unterhaltsamkeit durchaus auch seiner lebhaften Phantasie und gilt als Wegbereiter der literarischen Reportage, in der er die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auslotete (66).
Egon Kisch wurde am 29. April 1885 in Prag in eine deutschsprachige jüdische Familie geboren. Als Sohn eines Tuchhändlers gehörte er der bürgerlichen Mittelschicht an, unternahm jedoch bereits früh Streifzüge durch die Prager Josefstadt mit seinen zahlreichen Bordellen und sogenannten Beisln. Der junge Mann versuchte auf "manische[n] Art und Weise" (32) seine Umgebung zu kartographieren, als habe er die Flüchtigkeit seiner mehrsprachigen Heimatstadt bereits vorausahnen können. In "Marktplatz der Sensationen" benannte Kisch die antisemitischen Anfeindungen während der Hilsner-Affäre als wichtigen Ausgangspunkt seiner Leidenschaft für den Journalismus [1]. Buckard beschreibt, wie das letztlich gescheiterte Vorhaben einer Zeitung zur "Aufklärung der Massen" sein Interesse für jüdische Belange vorwegnahm, an dem er trotz seiner Hinwendung zum Kommunismus zeitlebens festhalten sollte (37).
Während seiner ersten Anstellung als Lokalreporter bei der bürgerlich-deutschnationalen Bohemia in Prag unternahm Kisch seine ersten offiziellen Reisen als Reporter. Diese führten ihn beispielsweise nach London ins dortige East End und nach Whitechapel. Dort begegnete er jiddischsprachigen Anarchisten und Sozialisten, deren Vertreter Morris Rosenfeld er in der Bohemia als "revolutionär gesinnten dichtenden Proletarier" und "deutschen Dichter" (59) feierte. Trotz seiner biografischen Nähe zur deutschsprachig-bürgerlichen Leserschaft interessierte sich der junge Reporter bereits vor dem Ersten Weltkrieg für das Schicksal der Entrechteten und verbrachte sogar eine Nacht im Schlafkeller der Londoner Heilsarmee (92), wie Buckard dem Leser berichtet.
Im Jahr 1917 wurde Kisch als Kriegsversehrter nach Wien ins österreich-ungarische Kriegspressequartier verlegt. Getrieben vom Wunsch, mit der alten Ordnung zu brechen und ernüchtert von den Schrecken des Kriegs, wurde er Mitglied der roten Garde und erlebte an vorderster Front den Fall des Habsburgerreichs. Nach einer Zwischenstation in seiner Heimatstadt zog es Kisch wie viele andere Zeitgenossen nach Berlin. Dort residierte er vor allem im Romanischen Café, das er aufgrund des mehrheitlich jüdischen Publikums ironisch als "Café Rachmones" bezeichnete. Einen interessanten Einblick in dieses Milieu erhält der Leser zum Beispiel durch ein Zitat von Kischs engem Freund und Weggefährten Joseph Roth. Dieser würdigt die "Entdeckung und Beschreibung der Stadtlandschaft und der Seele ihrer Bewohner" (154-155) als großes Verdienst der Juden. Dieser Hinweis hilft, Kischs Werk und seine zahlreichen Verflechtungen und Netzwerke einzuordnen.
Mitte der 1920er Jahre wird Kisch Mitglied der KPD, die zunehmend unter stalinistische Kontrolle geriet. Buckard macht deutlich, dass Kisch in seinen Berichten mitunter "die kleine Lüge in den Dienst der größeren Wahrheit" gestellt habe, um Schaden von seiner Partei abzuwenden und den politischen Kampf nicht zu gefährden. Der damit einhergehende Dogmatismus des Marxisten schien sich durchaus negativ auf seine Erzählkunst auszuwirken, wie Buckard vermittelt über die Kritik von Zeitgenossen wie Margarete Buber-Neumann aufzeigt (240). Dennoch schrieb Kisch auch weiterhin für jüdische Zeitschriften und verband seinen Reisebericht auch stets mit Episoden über das Leben der Juden vor Ort. Sein Werk, seine Netzwerke sowie die Hellhörigkeit gegenüber antisemitischen Untertönen lassen erahnen, welch wichtigen Stellenwert das Jüdische bei aller linientreuen Distanz zum Zionismus weiterhin spielte.
Nach seiner Ausweisung aus dem Deutschen Reich beteiligte sich Kisch in Paris im Umfeld von Willi Münzenberg an der Bildung einer Volksfront gegen den Faschismus und den drohenden Weltenbrand, der seit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs immer wahrscheinlicher schien. Dieses Vorhaben scheiterte letztlich an Repressalien, die sich vor dem Hintergrund der Moskauer Prozesse auch in kommunistische Organisationen im Ausland ausweiteten. Wie der Großteil seiner Genossen hielt Kisch sich mit einer allzu offenen Kritik zurück. Der notwendige Kampf gegen den Faschismus übertrumpfte auch bei ihm die Verbitterung angesichts der Moskauer Prozesse. Buckard weist darauf hin, dass die Partei den exilierten Schriftstellern nicht nur Beschäftigung und finanzielle Unterstützung, sondern vor allem einen höheren Sinn bot.
Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gelang Kisch über einen mehrmonatigen Transit in den Vereinigten Staaten die Flucht nach Mexiko. Buckard beschreibt auch hier sehr detailliert die einzigartige Konstellation aus deutschsprachigen Kommunisten und jüdischen Flüchtlingen. Die räumliche Distanz zur UdSSR ermöglichte zeitweise die Überwindung ideologischer Gegensätze und eine Beschäftigung mit der Judenvernichtung, die in ihrer Tiefe andernorts unmöglich schien. So trat die Bewegung Freies Deutschland (BFD), deren Mitglied und Förderer Kisch war, vehement für Entschädigungsleistungen und die Schaffung einer nationalen Heimstätte für verfolgte Juden ein. Für Kisch fiel die Befreiung Europas mit der Nachricht über die Ermordung seiner beiden Brüder Arnold und Paul Kisch in eins. Neben diesem schweren Schlag betrauerte er auch das untergegange multiethnische, aber vor allem jüdische Prag seiner Kindheit, dem er sich widmete, als die Gegenwart zunehmend unerträglich wurde. Kisch kehrte im März 1946 schließlich in die Tschechoslowakei zurück, wo das Deutsche nunmehr mit Misstrauen beäugt wurde. Mit vielen jüdischen Rückkehrern teilte er trotz allem den Wunsch nach dem Aufbau einer neuen Welt frei von Rassenhass und Unterdrückung. Der rasende Reporter starb wenige Wochen vor der israelischen Staatsgründung am 31. März 1948 infolge eines Schlaganfalls.
Buckard gelingt mit seiner Biografie über Egon Erwin Kisch ein nuanciertes Portrait, das sowohl Werk und Leben in einen größeren historischen Kontext stellt. Die tiefe Kenntnis der jüdischen Geschichte erlaubt dem Autor, besonders diesen Bezügen in Kischs Leben nachzugehen, ohne die Brüche und Ambivalenzen auszulassen. So gelingt Buckard ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Lebenswege jüdischer Kommunisten und deren vielfältige Gründe für den Beitritt zur Arbeiterbewegung. Einzig das Fehlen eines Personen- und Ortsregisters könnte als Schwachpunkt angesehen werden, vor allem angesichts des anekdotischen Stils und der Fülle an Personen und Begegnungen, die Kischs Leben prägten.
Anmerkung:
[1] Innenpolitische Affäre um den Prozess gegen den des Ritualmords beschuldigten Juden Leopold Hilsner im Jahr 1899, die den Höhepunkt der antisemitischen Welle in Böhmen und im weiteren Österreich am Ende des 19.?Jahrhunderts darstellte. Vgl. Frank Hadler: "Hilsner-Affäre", in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Säschsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Dan Diner, 43-46.
Alexandra Bandl