Jeffrey F. Hamburger / David J. Roxburgh / Linda Safran (eds.): The Diagram as Paradigm. Cross-Cultural Approaches (= Dumbarton Oaks Byzantine Symposia and Colloquia), Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2022, 574 S., 338 Farb-, 60 s/W-Abb., ISBN 978-0-88402-486-6, USD 85,00
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Handschriften sind nicht lediglich Depots von Texten, sie sind Vehikel des Denkens, Artefakte und Kunstwerke. Ihre Erforschung als solche wurde bekanntlich seit den Impulsen der 1960er-Jahre durch Jack Goody, Michael Clanchy, Malcom Parkes sowie Mary und Richard Rouse verstärkt kulturgeschichtlich betrieben. [1] Hierzulande wurden diese Ansätze prominent in dem Münsteraner SFB "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit" (1986-1999) sowie dem Heidelberger SFB "Materiale Textkulturen" (2011-2023) weiterverfolgt. [2] Dabei spielen nicht nur Textualität, sondern auch Bilderwelten im weiteren, und im engeren Sinne Diagramme eine Rolle, die unter anderem für die Lektürepraxis und mnemotische Techniken bedeutsam waren. In der deutschsprachigen Forschung sind Diagramme u.a. im Hinblick auf die scholastische Methode [3], für das Artes-Studium [4] und für den Bereich der Rechtsgelehrsamkeit untersucht worden [5], ganz abgesehen von dem weiten Feld der Chronistik. Auf diesen Forschungsfeldern spielten transkulturelle Perspektiven lange keine herausragende Rolle. [6]
Der vorliegende Band, hervorgegangen aus einer Konferenz in Dumbarton Oaks im Jahr 2018, nimmt sich dieses Themas an: Es geht, wie Jeffrey Hamburger in der Einleitung erläutert, um eine vergleichende Betrachtung von Diagrammen in Byzanz, den islamisch geprägten Territorien und Westeuropa. Gefragt wird danach, welche Mindsets und kognitive Prozesse hinter den Diagrammen stehen, ob sie Wirklichkeit repräsentieren oder konstruieren, welche Funktionen und Rhetoriken ausgemacht werden können, inwiefern objektgeschichtliche Ansätze tragen.
Drei Überblicksaufsätze klären die Forschungstraditionen für den jeweiligen Bereich.
Linda Safran konstatiert eine Forschungslücke der Byzantinistik in Bezug auf Diagramme, die rar genutzt würden, zeigt aber doch ihre Verwendung in unterschiedlichsten Kontexten auf (im Trivium und Quadrivium, bei Horoskopen, in der Logik, bei Tugenddarstellungen, Genealogien, Trinitätsdarstellungen).
David Roxburgh kann hingegen die reiche Tradition und den Einsatz von Diagrammen in allen Lebensbereichen islamischer Welten illustrieren, von Kibla-Diagrammen über Mondphasen bis hin zur Elefantenuhr, wobei er eine tendenzielle Reduktion der Studien auf die figurativen Künste beklagt.
Jeffrey Hamburger gibt zunächst eine methodische Einleitung, in der er danach fragt, ob Diagramme selbst Wissen hervorbringen, dann geht er auf ihre Funktion in Historiographie, Theologie, Kosmologie, bei Weltkarten, Genealogien, Konsanguinitäts-Schemata u.a.m. ein. Er sieht das 12. Jahrhundert in Europa mit dem Heraufziehen der Scholastik als Wasserscheide an für das, was er als "diagrammatic literacy" bezeichnet (72). Diese habe stärker auf die Anschauung bei Sachverhalten gesetzt, zu deren Klärung die Sprache nicht ausreiche; die Moderne mit ihrem starken Akzent auf dem Visuellen sei insofern ein Erbe dieser Entwicklungen (89f.).
Sodann werden 1. "wissenschaftliche", 2. kosmologische, 3. medizinische und 4. mathematische Diagramme durch die Autorinnen und Autoren untersucht.
1. Benjamin Anderson lotet am Beispiel von Darstellungen der Harfe des Jubal in byzantinischen Handschriften die Unterscheidung eines künstlerischen und eines wissenschaftlichen Verständnisses von Diagrammen aus. Alexandre Roberts zeigt auf, wie der Astronom Gregor Chioniades die arabische Überlieferung u.a. der Werke des Johannes von Damaskus mit astronomischen Diagrammen illustrierte, für byzantinische Leser aufbereitete und dadurch einen "visual commentary" (131) abgab. Divna Manolova beschäftigt sich mit der Adaption der Theorien des Eratosthenes zur Berechnung des Erdumfangs und Darstellungen der Tierkreiszeichen durch Kleomedes im Cod. gr. 482 der Bayerischen Staatsbibliothek. David Roxburgh geht den Illustrationen von Sternenkonstellationen im Kitāb al-kawākib al-thābita des al-Ṣūfī und dem Einfluss der erhaltenen Handschriften auf Himmelsgloben des 11. Jahrhunderts nach und weist auf ihre gemeinsame "didactic function and mnemotic capacity" hin (189).
2. Anne-Laurence Caudano demonstriert die Bandbreite von Planetendiagrammen in spätbyzantinischen Handschriften, die quadratisch, eiförmig oder rund ausfallen konnten. Sonja Brentjes erläutert geozentrische Kosmosdiagramme in islamischen Handschriften und setzt sie mit Astrolabien, aber auch Portolanen (u.a. dem Katalanischen Weltatlas) in Beziehung. Barbara Obrist verdeutlicht eine Entwicklung in Europa vom 11. zum 13. Jahrhundert, im Zuge derer ein achtgliedriges durch ein neungliedriges Sphärenmodell abgelöst wurde, wobei sich eine theologische Ungewissheit ergab (277).
3. Im medizinischen Bereich lotet Petros Bouras-Vallianatos die Nutzung von Baumdiagrammen und geometrischen Formen zur Erläuterung von Gesundheitszuständen und Behandlungsmethoden in griechischen Handschriften aus, die auch Darstellungen medizinischer Instrumente oder der menschlichen Anatomie bis hin zur Darstellung des Tierkreiszeichenmannes umfassen konnten; diese Diagramme sollten einen schnellen Referenzblick ermöglichen und wurden kontinuierlich überarbeitet. Ordnungsschemata wiesen auch Galen-Handschriften in der arabischen Medizin auf, wie Meekyung Macmurdie erläutert; eine Besonderheit waren hier die Lehrer-Schüler-Darstellungen, die auch einen Autoritätsbeweis lieferten. In spätmittelalterlichen englischen Handschriften - untersucht von Sara Öberg Strådal - sind ähnliche Phänomene zu beobachten, wobei das Bestreben nach Aktualisierung für eine sich wandelnde Leserschaft oder eine rein künstlerische Fortentwicklung einen Funktionsverlust der Behandlungsmethoden mit sich bringen konnte.
4. Die Ausstattung von Handschriften mit Boethius' Arithmetik umfasste oft quadratische Gitterstrukturen, welche der Kalkulation dienten, oder auch Baumstrukturen, die teilweise figural ausgestaltet waren, wie Megan McNamee erklärt. Jeffrey Hamburger geht syllogistischen Logikdiagrammen in verschiedenen Kontexten nach und plädiert dafür, sie als "tools with which to think, argue, and create" aufzufassen (425), was besonders bei Gegensatz-Quadraten deutlich wird, die später noch Leibniz nutzte. Anhand der Produktion des Skriptoriums von Zwiefalten zeichnet Adam S. Cohen den verstärkten Einsatz von Diagrammen seit dem 12. Jahrhundert vor allem auch in enzyklopädischen Handschriften nach. Linda Safran weist nach, wie der Einsatz von Trinitätsdiagrammen in Byzanz vom 13. zum 15. Jahrhundert unterschiedliche Positionen in theologischen Debatten widerspiegelt. Christiane Gruber spürt abschließend der Nutzung von kalligraphischen Diagrammen im Iran des 16./17. Jahrhunderts und ihren mystisch-okkulten Valenzen nach.
Bündelt man die Einzelanalysen, so weist der Band eindrucksvoll Ähnlichkeiten, Unterschiede und interkulturelle Durchdringungen in der Nutzung von Diagrammen als "kulturellem Paradigma" nach. Neben dem wissenschaftlichen Gehalt ist hervorzuheben, dass er nicht nur mit äußerst vielen sehr qualitätsvollen Farbabbildungen ausgestattet ist, sondern auch mit sehr nützlichen Transliterationen und graphischen Umarbeitungen, welche die mittelalterlichen Diagramme an die aktuellen Sehgewohnheiten anpassen.
Anmerkungen:
[1] Hier nur in Auswahl: Jack Goody: Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968; Ders.: The Logic of Writing and the Organisation of Society, Cambridge 1986; Malcon Beckwith Parkes: The influence of the concepts of ordination and compilation on the development of the book, in: Medieval Learning and Literature, Oxford 1976, 115-141; Michael T. Clanchy: From memory to written records: England, 1066-1307, London 1979; Mary A. Rouse / Richard Hunter Rouse (Hgg.): Authentic Witnesses: Approaches to Medieval Texts and Manuscripts, Notre Dame, Ind. 1991.
[2] https://www.uni-muenster.de/Geschichte/MittelalterSchriftlichkeit/ ; https://www.materiale-textkulturen.de/index.php.
[3] Martin Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1909-111.
[4] Michael Stolz: Artes-liberales-Zyklen: Formationen des Wissens im Mittelalter, 2 Bde., Tübingen 2004.
[5] Vincenzo Colli (Hg.): Juristische Buchproduktion im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002; Stephan Dusil: Wissensordnungen des Rechts im Wandel: Päpstlicher Jurisdiktionsprimat und Zölibat zwischen 1000 und 1215, Löwen 2018.
[6] Siehe aber z.B. Dorothea Weltecke: Die "Beschreibung der Zeiten" von Mor Michael dem Großen (1126 - 1199); eine Studie zu ihrem historischen und historiographiegeschichtlichen Kontext, Löwen 2003.
Tobias Daniels