Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag.Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma, Berlin: Suhrkamp 2024, 90 S., ISBN 978-3-518-58823-9, EUR 10,00
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Angesichts der weltweit ansteigenden antisemitischen Übergriffe nach dem barbarischen Massaker der islamistischen Terrororganisation Hamas an 1200 Juden am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden israelischen Militäreinsatz im Gaza-Streifen hat der Suhrkamp Verlag den Vortrag "Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute" von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1962 neu herausgegeben. Der Philosoph hielt ihn auf einer pädagogischen Konferenz in Wiesbaden auf Einladung des Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. In dem sehr instruktiven Nachwort kontextualisiert Jan Philipp Reemtsma den Vortrag.
Ab 1959 war eine antisemitische Anschlagswelle durch die Bundesrepublik geschwappt, beginnend mit NS-verherrlichenden Parolen auf der Kölner Synagoge. Diese Gegenwärtigkeit des Antisemitismus in der Bundesrepublik tat der damalige Bundeskanzler, Konrad Adenauer, in einer Fernsehansprache als Flegelei ab und bestritt die politische Grundlage der Taten. Der Judenhass war jedoch 1945 mit der Zerschlagung des NS-Regimes nicht verschwunden. Er war zwar offiziell tabuisiert, suchte sich aber neue Ausdrucksformen. Genau diesen scheinbaren Widerspruch thematisiert Adorno zu Beginn seiner Ausführungen.
Die Judenfeindschaft bestehe fort, obwohl es in Deutschland kaum noch Juden gebe, also unabhängig von den konkreten Subjekten. Sie sei deshalb kein isoliertes ideologisches Phänomen, sondern "Teil eines 'Tickets', eine Planke in einer Plattform" (12) und vor allem eng mit einem exzessiven Nationalismus verbunden.
Der Antisemitismus werde meist nicht mehr so offen geäußert. Die krypto-antisemitischen Äußerungen funktionierten mit einem Gestus des Augenzwinkerns: "Dieser Krypto-Antisemitismus ist eine Funktion der Autorität, die hinter dem Verbot offener antisemitischer Manifestationen steht." (16) Aufgrund des offiziellen Tabus gerierten Antisemiten sich als Verfolgte, als diejenigen, die verbotene Dinge aussprächen. Dieser antiautoritäre, pseudo-rebellische Gestus verdecke die autoritätshörige Charakterstruktur der Judenhasser, so Adorno. Sie verschlössen sich gegen reale Erfahrung, seien verhärtet und damit nur noch schwer erreichbar für Aufklärung. Der Antisemitismus knüpfe außerdem an unbewusste Triebregungen und innere Konflikte an. Folglich sei er eine "durch und durch antiaufklärerische Macht" (22). Deshalb weise er große Übereinstimmung mit anderen irrationalen Phänomenen auf, etwa der Astrologie.
Insofern sei es auch falsch, den Antisemitismus mit reklamehaften, manipulativen Methoden bekämpfen zu wollen. Dieser Versuch müsse scheitern: "Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zu Aufklärung zweideutig sich verhält." (28) Er sei nicht mit billigen Argumenten, sondern nur durch wahrheitsgemäße Aussagen zu widerlegen, die Komplexität und Widersprüche zuließen.
Im Folgenden erörtert Adorno die frühkindlichen Wurzeln des Antisemitismus aus psychoanalytischer Perspektive. Bereits in einer emotionslosen, harten Erziehung im Elternhaus bilde sich eine autoritäre Charakterstruktur aus, die später oftmals judenfeindliche Ressentiments hervorbringe. Dieses Verhalten zeige sich beispielsweise in der Schule als Abneigung gegen Schwächere.
Als Teil des Ticket-Denkens sei der Antisemitismus eng mit dem Antiamerikanismus und dem Anti-Intellektualismus verbunden: "Im Übrigen sind, und keineswegs nur in Deutschland, die Hetzbilder gegen den Intellektuellen, mit denen viele Massenmedien operieren, oft nur leise verschleierte Stereotype des Antisemitismus." (54) Der Judenhass sei außerdem tief verwurzelt in der deutschen Kultur und nicht erst durch Adolf Hitler in sie eingedrungen.
Adorno appelliert am Ende seines Vortrags daran, den Antisemitismus konsequent zu bekämpfen und zwar mit militanter Aufklärung. Ferner müsse gegen Irrationalismen aller Art vorgegangen werden, die zwar immer weniger Halt in der Realität fänden, dafür aber umso hartnäckiger seien. Der Kampf gegen den Judenhass folge dem Grundsatz: "So etwas soll nicht noch einmal sein." (56)
Das gut 30-seitige Nachwort von Reemtsma rundet den Band ab. Es arbeitet nicht nur die zentralen Gedanken Adornos heraus, sondern ordnet sie theoretisch und zeithistorisch ein. Er beendet seine Reflexionen mit einem Hinweis, der zugleich auch den Grund für die Neuedition darlegt: "Antisemitismus ist das Predigen von Hass, der Wunsch nach Vernichtung. Seine Geschichte zeigt, was er war und ist. Die antisemitische Agitation bezieht ihre Selbstlegitimation aus ihrer eigenen Geschichte. Die Geheimnislosigkeit des Antisemitismus ist sein anhaltendes Karrieremodell." (86)
Die Neuherausgabe des Vortrags stellt sicherlich eine Konsequenz auf die Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 dar. Dieses Ansinnen ist lobenswert, da viele Gedanken Adornos und sein philosophisch-psychoanalytischer Zugriff auf den Antisemitismus nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben und auch jüngere Entwicklungen wie die Querdenker oder Coronaleugner besser verständlich machen. Auch sie stellen einen Teil des Ticket-Denkens dar. Es bedarf dieser analytischen Tiefe, um sich der Geschichte und Gegenwart des Judenhasses zu nähern und seine Persistenz zu verstehen. Diese Analyse ist notwendig, um ihn effektiv und nachhaltig bekämpfen zu können.
Sebastian Voigt