Susanne Keller-Giger: Carl Kostka und die Deutschdemokratische Freiheitspartei in der Tschechoslowakei der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, Kulmbach: Verlagsbuchhandlung Sabat 2021, XVIII + 277 S., ISBN 978-3-943506-96-9, EUR 24,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die vorliegende Dissertation ist konzipiert als Chronologie der Deutschdemokratischen Freiheitspartei (DDFP) in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und - darin verwoben - als Biografie ihres letzten Vorsitzenden, des Reichenberger Bürgermeisters, Senators und Ersten Sekretärs der Reichenberger Handels- und Gewerbekammer, Carl Kostka (1870-1957). Susanne Keller-Giger erklärt diesen Ansatz damit, dass Größe und Bedeutung der Deutschliberalen als Partei im Vergleich etwa zur Deutschen Sozialdemokratischen Partei oder dem Bund der Landwirte relativ marginal war und gleichzeitig die Quellenüberlieferung sowohl zur Partei als auch zu Kostka äußerst lückenhaft ist. Wie sie in ihrer instruktiven Einleitung ausführt, ist eine umfassende Betrachtung der DDFP im Kontext der deutschen aktivistischen Parteien der Tschechoslowakei dennoch lohnenswert, weil zu ihr herausgehobene Persönlichkeiten wie Ludwig Spiegel oder eben Kostka gehörten. Letzterer habe "ab 1935 sowohl auf regionaler wie auf Staatsebene in einem Maß Einfluss zu nehmen [versucht], das weit über die politische Bedeutung der Partei hinausging" (XI). Der schmalen archivalischen Überlieferung zur DDFP und dem Verlust des Kostka-Nachlasses in der Moldau-Flut von 2002 ist es geschuldet, dass sich das zu rezensierende Werk insbesondere auf Parteiorgane und ihr nahestehende Presseerzeugnisse stützt, wie die Bohemia, die Reichenbacher Zeitung und die bislang in der Forschung wenig beachteten Demokratischen Stimmen. Neben dem Bundesarchiv wurden in den tschechischen Staatsarchiven in Prag (Praha) und Reichenberg (Liberec) insbesondere Polizeiberichte des tschechoslowakischen Innenministeriums, weitere Presseberichte sowie die editierten deutschen Gesandtschaftsberichte mit Bezug zur DDFP ausgewertet. Kostkas Schwiegertochter stellte zudem für die Zeit nach 1945 einige weitere Dokumente zur Verfügung.
Eine lückenhafte Quellenüberlieferung lässt sich mitunter durch eine tiefergehende Analyse des Vorhandenen unter Zuhilfenahme der umfangreichen Forschung zum Thema kompensieren. Leider fußt die Arbeit nur begrenzt auf tschechischsprachiger und darüber hinaus internationaler Forschung, die in den letzten 30 Jahren auch zu dem deutschen Parteienwesen in der Tschechoslowakei und insbesondere der "Nationalitätenfrage" differenzierte Erkenntnisse geliefert hat. Das ist bedauerlich.
Das vorliegende Werk beginnt mit einer Einleitung, die eine Darlegung des Aufbaus, methodische Überlegungen, den Forschungsstand und Anmerkungen zu zentralen Begriffen und Abkürzungen enthält. Es schließen sich vier chronologisch angeordnete Überkapitel (Erster Weltkrieg bis 1928; 1928 bis 1935; 1935 bis März 1939; 1939 bis 1957) sowie ein Abschlusskapitel mit Schlusswort, Danksagungen und dem Quellen- und Literaturverzeichnis an. Das dritte Kapitel zum Zeitraum von den letzten Parlamentswahlen der Ersten Republik 1935 bis zur Zerschlagung der Zweiten Tschechoslowakischen Republik im März 1939 bildet allein schon vom Umfang her mit 150 Seiten den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches.
Zur DDFP erfahren wir, dass sie in der Tradition der vor 1918 gesamthabsburgisch organisierten Demokratischen Partei stand, deren Mitgliederschaft auf dem Gebiet der Tschechoslowakei weitgehend erhalten blieb. Es handelte sich vorwiegend um Angehörige des "gehobene[n] deutschen Bildungsbürgertums" (7), wohingegen Handwerker und Gewerbetreibende kaum vertreten waren. In den ersten beiden Kapiteln wird die Entwicklung der Partei vom anfänglichen Negativismus, also der Ablehnung der Tschechoslowakei als Staat und der Weigerung, sich an seinen politischen Institutionen zu beteiligen, hin zu einer vergleichsweise frühen Wendung zum Aktivismus nachgezeichnet. Die Schilderungen beinhalten Bündnisbestrebungen innerhalb des deutschen Parteienspektrums und zeichnen die wechselnde Rolle der Deutschliberalen im Kontext der deutschen aktivistischen Parteien nach. Kostka selbst wirkte im tschechoslowakischen Senat und kommt in ausgiebigen (mitunter seitenlangen) Quellenzitaten selbst zu Wort.
Diese Auszüge werden zwar durchaus eingeordnet, dennoch hätte sich der Rezensent an manchen Stellen mehr analytische Tiefe und mitunter einen distanzierteren Umgang mit den Quellen gewünscht. Hier wirkt sich die nicht eingearbeitete breitere Forschung zu den tschechisch-deutschen Beziehungen aus, in der gezeigt werden konnte, dass der "Nationalitätenkampf" in seiner Schärfe von den Zeitgenossen - gerade auf politischer Ebene - oftmals überhöht dargestellt wurde. Da das vorliegende Werk sich jedoch weitgehend auf Presseorgane der Deutschliberalen selbst stützt, wird deren Perspektive zu selten gebrochen bzw. infrage gestellt. Dabei war es der Zeitgenosse Kostka selbst, der in einer vielbeachteten Rede im tschechoslowakischen Senat am 9. März 1938 feststellte, dass die Lage der deutschsprachigen Bevölkerung keineswegs so fatal sei, wie von ihren Kritikern behauptet (147 folgend).
Insbesondere das "Hauptkapitel", in dem das Ringen der DDFP und Kostkas gegen ihren Bedeutungsverlust durch das Aufkommen der Sudetendeutschen Heimatfront bzw. Sudetendeutschen Partei beschrieben wird, zeichnet die mitunter als "Sisyphusarbeit" empfundene Arbeit der aktivistischen Parteien durch die Heranziehung der wenigen noch vorhandenen Quellen in anschaulicher Weise nach. Die Abschnitte zu Kostkas Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der mühsamen Wiedererlangung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft nach dem Krieg sind durch die quellengesättigte Darstellung spannend zu lesen.
So bietet die Studie dank dem akribischen Zusammentragen der wenigen Quellen zu Kostka und der DDFP neue Erkenntnisse zum deutschen Aktivismus und generiert dadurch ihren Wert für die Forschung.
Sebastian Ramisch-Paul