Rezension über:

Pierangelo Buongiorno (a cura di): "Senatus consultum ultimum" e stato di eccezione. Fenomeni in prospettiva (= Acta Senatus: B. Studien und Materialien; Bd. 8), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 195 S., ISBN 978-3-515-12647-2, EUR 78,00
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Rezension von:
Christoph Lundgreen
Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Alte Geschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Lundgreen: Rezension von: Pierangelo Buongiorno (a cura di): "Senatus consultum ultimum" e stato di eccezione. Fenomeni in prospettiva, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/05/34941.html


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Pierangelo Buongiorno (a cura di): "Senatus consultum ultimum" e stato di eccezione

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Der vorliegende Band bietet einen interessanten Ein- und Überblick zum sogenannten Senatus consultum ultimum. Auch wenn dieser Terminus in den Quellen selbst so nur selten fassbar ist, wie Pierangelo Buongiorno in seinen Riflessioni introduttive gleich eingangs festhält, taucht die Abkürzung SCU neben anderem, wie dem tumultus, der Diktatur oder dem iustitium, als Notstandsinstrument und Ausnahmemaßnahme häufig in der Forschung auf - und ist auf reges Interesse bei Althistorikerinnen und Philologen, Rechtshistorikerinnen und Juristen, Philosophen und Ideengeschichtlerinnen gestoßen. Alle diese diskutieren seit langem die Frage, inwieweit ein sehr allgemeiner Senatsbeschluss mit dem Inhalt, die Magistrate, meist die Konsuln, mögen Sorge dafür tragen, dass der Staat keinen Schaden nehme, tatsächliche rechtliche oder 'nur' politische Auswirkungen hatte. Was die Frage so intrikat (und vermutlich deswegen so anregend) werden lässt, liegt einerseits an der besonderen Form der römischen 'Ordnung', die die allgemeinen Fragen von Regel, Ausnahme und Ausnahmezustand noch einmal schwieriger macht, andererseits an nur wenigen Fällen der Anwendung, die dabei zudem umstritten bleiben, weswegen das SCU stets zwischen politischem Kampf und Rechtsinstitut oszilliert.

Den einleitenden Bemerkungen entsprechend ist die Literatur zum SCU enorm. Hierzu bietet Roberto Scevola ("Senatus Consultum ultimum. Orientamenti interpretativi e questioni aperte") auf 55 Seiten einen substantiellen Blick auf verschiedene Forschungstraditionen und dröselt minutiös die divergierenden Annahmen der Forschung auf, etwa inwieweit Rom eine Verfassung hatte oder zumindest der Senat als legitimes und Legitimität spendendes Zentrum gelten konnte. Als Vorbilder für das SCU werden die Umstürze 401 und 404 in Athen ebenso diskutiert wie die Bacchanalienverschwörung 186, verschiedene livianische Rückprojektionen ebenso wie die Anwendungsfälle von 121 bis 40 v.Chr - die, dass ist der Punkt, eben sowohl in ihrer Legalität als auch Legitimität immer umstritten blieben. Von besonderem Interesse sind Scevolas Ausführungen zu den verschiedenen Positionen der Forschung, dem SCU entweder jede Rechtsqualität abzusprechen, einer Meinung, der sich der Rezensent anschließt [1], oder es als komplett illegal zu begreifen, oder wiederum von einer allmählichen "costituzionalizzazione" auszugehen (39-41); wobei man noch einmal überlegen müsste, ob für die hier interessanterweise vielen deutschsprachigen angeführten Untersuchungen mos nicht doch eine andere Kategorie bildet. [2] Als vierte Position wird mit Rekurs auf Cicero und Sallust überlegt, inwieweit mit dem SCU der Senat an die Stelle der Volksversammlungen trat und die lex publica ersetze, zumindest im Sinne der Definitionshoheit bezüglich des Wohls des Volkes; klassisch in der Formulierung Ciceros (leg. III,3,8): salus populi suprema lex esto, einer Formel mit eigenem langen Nachleben in der Ideengeschichte. Den Abschluss bilden fünftens Ausführungen zur Biopolitik Foucaults, der sacertà von Roberto Fiori und dem iustitium bei Giorgio Agamben.

Nach diesem großen Bogen konzentriert sich Chiara Carsana ("Senatus consulta servandae r.p. causa nel II sec. a C.") auf die Fälle von 133 und 121, wobei sie vor allem mit Rekurs auf spätere Überlieferungen von Appian und Valerius Maximus überlegt, inwieweit nicht doch auch schon 133 ein SCU erlassen worden sei oder das gewaltsame Ende von Ti. Gracchus als Vorbild für die spätere hostis-Erklärung gelten können. Beides wird am Ende verneint, verdeutlicht aber die Sicht schon antiker Quellen in die "gradualità di tale processo" (73). Dazu gehört auch, die fortwährende Einschränkung, sich "so legal wie möglich" zu verhalten, was Cicero, Konsul im Jahr 63, am Wert des für ihn ergangenen SCU entsprechend (ver)zweifeln lässt (78f.), welches im Laufe der Zeit zu einer "misura [...] essenzialmente cautelativa e difensiva" (82) geworden sei. Mario Varvaro sieht in seinem Beitrag ("Senatus consultum 'ultimum' und Erklärung zum Staatsfeind zwischen Recht, Rhetorik und Politik im spätrepublikanischen Rom") das SCU dennoch als Beispiel des überzeitlichen Phänomens, Bürgerrechte auf dem Altar der Staatsräson zu opfern (86) und behandelt dafür in schnellem Durchgang das Provokationsrecht, die Rolle der Volkstribune, die hostis-Erklärung und die Diktatur, als deren Fortentwicklung das SCU manchmal angesehen werde. Hervorzuheben sind seine Passagen zu Ciceros Rhetorik, welcher in pro Sestio 39 in der Tat bemerkenswert schnell von derperditi cives zu domestici hostes gelangt, was Varvaro überzeugend als Vorläufer eines "Feindstrafrechts" interpretiert (96). Allein, ob heutzutage Grund- und Menschenrechte wirklich so viel besser vor rhetorischer Aushebelung geschützt sind (102), ist wohl eher zu hoffen als tatsächlich zu erwarten.

Es folgen zwei ideengeschichtliche Aufsätze. Ulrico Agnati ("Rousseau l'emergenza. Tra diritto pubblico romana e costituzioni democratiche") bietet eine differenzierte Untersuchung Rousseaus, der in seinem Contrat Social nicht nur die römische Republik als idealisiertes Modell für seine Vorstellung von Volkssouveränität entwirft, sondern dabei die Diktatur und das SCU behandelt, nämlich als Mittel zur nötigen Flexibilität einer Ordnung (115), dabei, so Agnati, aber mit durchaus unterschiedlicher Konnotation: Während das SCU für Rousseau Teil der Ordnung war, was sich an seiner Einschätzung von Ciceros Aktionen gegen die Catilinarier zeige [3], bildet die Diktatur die Ausnahme, mit unbegrenzter Macht, wiewohl zeitlich begrenzt und mit dem feststehenden Zweck der Ordnungsbewahrung (133). Piero Marino erweitert danach in "La misura dell'eccezione. Iustitium e teologia politica" noch einmal den Blick und geht Giorgio Agambens Lektüre von Carl Schmitt und Walter Benjamin bezüglich der Frage nach, ob der Ausnahmezustand in oder außerhalb der Rechtsordnung zu verorten ist und auch, ob mit Habermas gesprochen, der moderne liberal-demokratische Staat in der Lage sei, der Legalität auch Legitimität zu verleihen.

Mit den letzten beiden Artikeln ist deutlich geworden, dass der Band weit über die römische Republik hinausreicht und als Zielpublikum die eingangs genannte interdisziplinäre Gruppe all derjenigen hat, die an der Ausnahme als Denkfigur, an den Grenzen einer Rechtsordnung und grundsätzlichen Fragen nach Legalität und Legitimität interessiert sind und, wie in der Einleitung von Buongiorno angekündigt, eher gezielt bestimmte Aspekte vertiefen wollen als endgültige Antworten zu bekommen. Einige Überschneidungen zwischen den Beiträgen sind zu vermerken, lassen sich bei der allen gemeinsamen Grundlage nur weniger historischer Fälle vielleicht nicht vermeiden; produktiv ist dies dann, wenn die Figur der Rettung / Bewahrung der Ordnung durch ihre temporäre Suspendierung mehrfach und unterschiedlich mit der salus des Staates verknüpft wird. Etwas überraschend ist dagegen, dass in mehreren Beiträgen viel von optimates und populares die Rede ist, wiewohl doch die Vorstellung einer solch klaren politischen Zweiteilung der Elite bzw. überhaupt der Existenz oder zumindest Definierbarkeit der beiden Gruppen wenn nicht überholt, so doch umstritten ist. Sollte die divergierende Bewertung der Anwendungsfälle vom SCU dagegensprechen, könnte man dies expliziter herausarbeiten.

In ihren "Riflessioni in forma di bilancio sul senatus consultum servandae rei publica causa. Periodizzazzione di un istituto giuridico" inklusive einem erneuten Durchgang aller Fälle, auch tabellarischer Auflistung am Ende, verdeutlicht Maria Teresa Schettino noch einmal die graduellen Entwicklungen eines nie widerspruchsfreien und nie gänzlich klaren Instituts. Unterstrichen werden dabei von ihr erneut die zentrale Rolle Caesars - sowohl als Autor der namensgebenden Formulierung extremum atque ultimum senatus consultum (Caes. BC 1,5,3), als auch als Protagonist von 63, der gegen die Hinrichtung der Verschwörer argumentiert; und ferner, wie sehr das SCU als Teil eines Deutungskampfes von Senat und Volksversammlungen bzw. Volktribunen und Magistraten bezüglich der salus rei publicae zu sehen ist (174) [4] - wie es wohl immer (noch) bei Fragen des Ausnahmezustands der Fall ist.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Christoph Lundgreen: Senatus Consultum Ultimum, in: The Encyclopedia of Ancient History, hgg. von Roger S. Bagnall / Kai Brodersen, Malden MA (Wiley Online Library [https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/9781444338386.wbeah26387]).

[2] Bei alldem hält Scevola (47) treffend fest: "Gli orientamenti consolidatisi in dottrina propugnano, rispettivamente, la costituzionalità, l'incostituzionalità e l'extracostituzionalità della deliberazione, eludendo tuttavia il problema principale [...]: definire esattamente che cosa siano e che caratteri posseggano legittimità e legalità costituzionali nella tarda res publica."

[3] Die Formulierung Rousseaus, "Aussi fut-il honoré justement comme libérateur de Rome, et justement puni comme infracteur des loix. Quelque brillant qu'oit été son rappel, l'est certain ce que fut en grâce" (Contrat Social, Livre IV, chap. VI [457f. Bibliothèque de la Pléiade]), bildet die im Band allgemein deutlich werdende Schwierigkeit gut ab, dem politischen Ratschlag des Senats auch rechtliche fassbare Konsequenzen zuzuschreiben.

[4] Für Rom kann hier jetzt weiterführend auf Robert Morstein-Marx: Julius Caesar and the Roman People, Cambridge 2021, bes. 303-320 verwiesen werden.

Christoph Lundgreen