Pieter Beullens: The Friar and the Philosopher. William of Moerbeke and the Rise of Aristotles Science in Medieval Europe (= Studies in Medieval History and Culture), London / New York: Routledge 2023, 160 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-1-032-30521-9, EUR 96,00
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Zu den großen Unbekannten der Geisteswelt der Hochscholastik gehört Wilhelm von Moerbeke. Mit seinem Namen werden die "neuen" Aristotelesübersetzungen verbunden, die die "Meister" des 13. Jahrhunderts wie Thomas von Aquino für ihre philosophisch-theologischen Neuansätze verwenden konnten. Dass Wilhelm von Moerbeke dabei weit mehr war als ein bloßer Übersetzer, belegt die vorliegende Studie eindrucksvoll. Ursprünglich in niederländischer Sprache im Jahr 2019 veröffentlicht, wird sie nun einem breiteren Publikum in englischer Sprache zugänglich gemacht. Der ursprüngliche Charakter eines Lehrbuchs ist dabei beibehalten worden, was zugleich Stärke und Schwäche des Buchs ist: Stärke, indem jedes Kapitel mit Leseempfehlungen endet und damit zeigt, dass mit dem Kapitel keineswegs alles gesagt ist; Schwäche, weil der weit gespannte Bogen von Aristoteles bis in die Renaissancezeit (und darüber hinaus) fragen lässt, ob nicht zu viel auf sehr limitiertem Raum untergebracht werden sollte.
Der Bogen, den das Buch beschreibt, ist in der Tat sehr weit geschlagen, dient aber durchaus dem Ziel, den schwer greifbaren mittelalterlichen Übersetzer begreifbar zu machen. In einer kurzen Einleitung ("Shoulders"), acht Kapiteln und zwei Anhängen entfaltet Pieter Beullens, der in Leuven am De Wulf-Mansion Centre for Ancient, Medieval and Renaissance Philosophy lehrt und forscht und als Editor mittelalterlicher lateinischer Übertragungen hervorgetreten ist, das Milieu, in dem die Übertragungen Wilhelms entstehen konnten.
In der kurzen Einleitung verdeutlicht Beullens, dass er Wilhelm gleichsam als Kristallisationspunkt einer langen Traditionskette betrachtet. Deswegen geht er im ersten Kapitel ("Model") zurück zu den Entstehungsbedingungen und dem Wirken des Aristoteles, der Überlieferung seiner Werke und seinen ersten Kommentatoren. Dadurch wird die Zufälligkeit der Überlieferung von deren Werken deutlich.
Im zweiten Kapitel ("Precursors") wird die ebenso vielgestaltige wie eklektische Tradierung und Übersetzung einzelner Werke des Aristoteles bis ins 13. Jahrhundert skizziert.
Das dritte Kapitel ("Project") eröffnet mit einem Rückgriff auf eine schon zuvor zitierte negative Bewertung des Wirkens Wilhelms aus der zeitgenössischen Feder Roger Bacons, der die Qualität von Wilhelms Übersetzungswerk in Frage stellte. Dagegen setzt Beullens, dass Wilhelm relativ gesehen ohne große Hilfsmittel ein gewaltiges Pensum erarbeitet hatte und sich dabei einer gewaltigen Schwierigkeit stellte, die jeder Übersetzer, jede Übersetzerin kennt: Die anders gearteten Bedingungen der Zielsprache, in diesem Fall der Verlust des Artikels vom Griechischen zum Lateinischen, den Wilhelm durch Kreativität (aus dem Romanischen hergeleitete "Artikel") und Neologismen auszugleichen versuchte. Dabei versuchte der akribische Übersetzer, fortschreitende Erkenntnisse auch den "fertigen" Übertragungen angedeihen zu lassen, indem er diese ergänzte. Für die Übersetzung oder auch Revision bereits vorliegender Übertragungen suchte er möglichst viele "Originale", also griechische Handschriften der zu übersetzenden Werke, die er zur Erhebung des "eigentlichen" Wortlauts miteinander verglich.
Im vierten Kapitel ("Order") wendet sich Beullens dem Predigerorden zu und stellt kurz Albertus Magnus und Thomas von Aquino in ihren Beziehungen zu Aristoteles und ihren möglichen Beziehungen zu Wilhelm von Moerbeke vor: "Yet the combined evidence and the framework of the scientific and theological project planned by the Dominican order make it extremely unlikely, that the two scholars [d.h. Thomas und Wilhelm] never met and talked about their work." (85).
Das fünfte Kapitel ("Network") verortet Wilhelms Wirken am päpstlichen Hof, an dem er zeitweilig als Pönitentiar wirkte. Insbesondere in der Zeit der Interregna war es möglich, die umfangreiche Übertragung des Archimedes und seines Kommentators Eutokios in Angriff zu nehmen. In einer Handschrift (Wien, ÖNB phil. gr. 100) ist zudem Wilhelms Werkkatalog des hippokratischen Oeuvres überliefert. In diese Zeit datiert auch Wilhelms Bekanntschaft mit Heinrich Bate von Mechelen.
Das sechste Kapitel ("Diplomat") ist einerseits dem möglichen Herkunftsort (zwei mögliche, gleichnamige Orte in Ostflandern bzw. einer in Nordfrankreich) und andererseits den diplomatischen Diensten während der Kreuzzugszeit nach Nizäa und später für den Papst nach Griechenland gewidmet. Obgleich eine Festlegung des Herkunftsortes nicht möglich zu sein scheint, optiert Beullens für eine Herkunft aus dem Grenzgebiet "between the county of Flanders and the French realm of Artois" (112) mit einer Verbindung nach St. Omer. Dennoch sei die Bezeichnung "von Moerbeke" statt "von Morbecque" wahrscheinlicher. Die Herkunft aus der Region mache es wahrscheinlich, dass Wilhelm 1260 im diplomatischen Auftrag nach Griechenland reiste und bei dieser Gelegenheit die griechische Sprache erlernte. Von daher rühre auch sein späteres Amt als Erzbischof von Korinth von 1280 bis zu seinem Tod im Jahr 1286.
Der zeitgenössische Erfolg, der zumindest teilweise in Verbindung mit den entsprechenden Kommentaren des Thomas von Aquino zu sehen ist, wird in Kapitel 7 ("Success") dokumentiert: Die Übersetzungen des Wilhelm waren Teil des Pariser Pecienwesens, dem Vorläufer des späteren Buchhandels. Die zumindest zeitweilige Abhängigkeit von Thomas hatte zugleich zur Folge, dass Wilhelms Übersetzung der aristotelischen Poetik sich nicht verbreitete - Thomas hatte sie nicht kommentiert.
Das abschließende achte Kapitel ("Fall") führt noch einmal vor Augen, dass Wilhelms Übersetzungen einerseits als Grundlage für die französischen Übertragungen des Nicole Oresme (1320-1382) dienten, aber andererseits auch in der Renaissance für ihr "griechisches" Latein kritisiert wurden.
Ist schon bis hierher das Buch sehr lehrreich, so erweisen sich die beiden Anhänge als wahre Meisterstücke: In Appendix I werden zeitgenössische Ereignisse in einer Synopse mit Lebens- und Übersetzungsdaten Wilhelms dargestellt; in Appendix II seine sämtlichen Übertragungen antik-griechischer Autoren sortiert und kategorisiert. Die schiere Menge der von Wilhelm übersetzten Werke - 45 Übertragungen bzw. Revisionen älterer Übersetzungen! - macht angesichts seines Hauptberufs als Ordenstheologe mit zeitintensiven praktischen Aufträgen im päpstlichen Dienst sprachlos.
Das Werk Wilhelms verdient die gebührende Anerkennung und Würdigung (ungeachtet der Tatsache, dass die Übertragungen natürlich nicht unproblematisch sind), das Buch Beullens viele interessierte Leserinnen und Leser.
Görge K. Hasselhoff