Rezension über:

Annette Kranen: Historische Topographien. Bilder europäischer Reisender im Osmanischen Reich um 1700 (= Berliner Schriften zur Kunst), Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2020, 384 S., 13 Farb-, 173 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6502-3, EUR 99,00
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Rezension von:
Anna Magnago Lampugnani
Bibliotheca Hertziana, Rom
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Anna Magnago Lampugnani: Rezension von: Annette Kranen: Historische Topographien. Bilder europäischer Reisender im Osmanischen Reich um 1700, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/05/38940.html


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Annette Kranen: Historische Topographien

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Annette Kranen widmet sich in ihrer Monographie illustrierten Berichten europäischer Reisender, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den östlichen Mittelmeerraum erkundeten. Die Autorin stützt sich in ihrer Untersuchung - der überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation - auf vielfältiges und umfassendes Material: Reiseberichte aber auch Frontispize, Kupfertitel, Skizzen, Stadtansichten und Karten. Als Kunsthistorikerin sind die visuellen Zeugnisse ihr Hauptgegenstand, die sie aber gewinnbringend mit schriftlichen Überlieferungen in Verbindung setzt.

Die untersuchten illustrierten Berichte, von Reisenden aus Frankreich, England und den Niederlanden verfasst, stammen aus dem Zeitraum zwischen 1680 und 1720, als eben diese Länder, in Konkurrenz zu Italien, intensive diplomatische wie ökonomische Beziehungen zum Osmanischen Reich unterhielten. Ziele der Reisende waren Orte der Antike: Athen oder Delos, aber auch das angrenzende Perserreich, Ägypten, oder Schauplätze biblischer Historien in Palästina wie Jerusalem. Überlieferte historische und literarische Informationen wurden von den Reisenden vor Ort geprüft und aktualisiert, neue Beobachtungen und Erfahrungen notiert und nach der Rückkehr in den Herkunftsländern verfügbar gemacht und verbreitet. Bilder wie Texte dieser Reisen waren also, wie Kranen feststellt, in einen vielschichtigen Kommunikationsprozess eingebunden; Reisende und Rezipienten näherten sich den antiken Orten stets durch die eigene Linse und setzten sich in dem Versuch, die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus zu verstehen, mit dem Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit und Fremdheit und Vertrautheit auseinander. Dabei konstatiert Kranen eine synchrone Fremdheit zwischen den Reisenden und den Lokalen vor Ort, aber auch eine diachrone Fremdheit, und hier verweist die Autorin auf die zu der Zeit virulente Querelle des Anciens et des Modernes zwischen Gegenwart und Antike. Um dieses Spannungsfeld von Differenzerfahrungen zu untersuchen, wählt Kranen den als Arbeitstitel bezeichneten Begriff der "Historischen Topographien". Denn es sei gerade der Ort, und hier verweist die Autorin auf das Konzept der "Ortsidentitäten" (Ashworth / Graham / Tunbridge 2007), an dem sich die Auseinandersetzung mit Identitäten und Abgrenzungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf Reisen abspiele. In der Wahl dieser Perspektive grenzt sich ihr Ansatz von der bisherigen, sehr reichen Forschung zu Reiseberichten ab, die sich meist auf einzelne Länder und Fallstudien beschränkt.

In der breit angelegten, methodisch anspruchsvollen Fragestellung liegen der große Gewinn, jedoch auch die Herausforderung der Studie, die sich mit einer kaum zu überblickenden Materialfülle auseinandersetzt. Ohne auf die Spezifitäten der einzelnen Reiseberichte eingehen zu können, bearbeitet die Autorin in drei Kapiteln jeweils systematische Schwerpunkte: Zunächst werden die Reisenden selbst und ihre Inszenierung als Reisende in den Blick genommen (Kap. 1. "Reisen und davon Berichten"), anschließend die bereisten Orte in ihrer geschichtlichen Dimension (Kap. 2. "Darstellungen historischer Topographien") und zuletzt die Monumente selbst (Kap. 3. "Formen der Aneignung historischer Monumente").

Das erste Kapitel untersucht Frontispize und Kupfertitel, die als Vorausschau auf die Reiseberichte zu lesen sind. Dabei wird die Inszenierung der Identität der Reisenden selbst behandelt. Gefragt wird, wie sie ihre Mobilität und ihre Tätigkeiten unterwegs darstellten. Annette Kranen arbeitet unterschiedliche Strategien heraus, etwa das Motiv des Zeigens oder die Markierung der Identität der Reisenden, die sich an gewisse kulturelle Gewohnheiten wie Kleidung, Sprache, Umgangsformen anzupassen versuchten, etwa wenn Jean de Thévenot auf dem Frontispiz seiner 1664 veröffentlichten Relation d'un voyage fait au Levant in osmanischem Gewand erscheint. Anschließend wird der Aspekt der Legitimation untersucht: Da von Rezipienten der Berichte Authentizität erwartet wurde, beglaubigten die Reisenden, zum Beispiel indem sie sich selbst vor Ort inszenierten, ihre tatsächliche Anwesenheit in der Ferne. In einem dritten Abschnitt wird die Tradition verhandelt, in die sich Reisende stellten, wenn sie bereits von ehrwürdigen Vorgängern oder Pilgern bereiste Ort erneut beschrieben und ihren Routen folgten.

Im zweiten Kapitel geht es um die Darstellungen historischer Topographien und um die Frage, wie Reisende die Orte durch überlieferte Texte von Geographen erschlossen, also welche Rolle die geschichtliche Dimension in der Rezeption der "Ortsidentitäten" spielte. Das Spannungsfeld zwischen antiken Quellen zur Geographie und Erfahrung vor Ort macht etwa die Toponymie deutlich: Die häufigen Namenswechsel der Städte waren für Reisende, die den biblischen Text vor Augen hatten, nicht ohne weiteres zu durchschauen. Itinerarien wurden in Auseinandersetzung mit vorhandenem Kartenmaterial bestimmt, und sogar geplante Invasionen konnten sich, wie das Beispiel einer 1685 in französischem Auftrag geplanten Spionagekampagne zeigt, auf Überlieferungen aus antiker Literatur stützen. Aus früheren Quellen kopierte Ansichten historischer Monumente wurden den militärischen Plänen hinzugefügt. In einer sorgfältigen und überzeugenden Analyse der Stadtansicht Jerusalems von Cornelis De Bruijn (1698) zeigt Kranen, dass die durch den unüblichen Blickpunkt getätigte Dezentrierung des Felsendoms (und Zentrierung der Grabeskirche) einer komplexen Wertung der Jerusalemer Topographie entspricht. De Bruijn nimmt von der Identifizierung des Felsendoms als Salomonischen Tempel Abstand und zeigt vielmehr, dass der Ort nun eindeutig muslimisch besetzt ist, weshalb das neue sakrale Zentrum im christlichen Sinne das Heilige Grab wird. Einmal mehr zeigt sich, dass es nicht zielführend ist, die Bilder dieser Orte auf ihren "dokumentarischen" Wert zu befragen, sondern darauf, welche kulturelle Bedeutungen sie konstruierten.

Im dritten Kapitel erkundet die Autorin die Auseinandersetzung der Reisenden mit den materiell greifbaren Überresten und Monumenten aus der Vergangenheit. Während kleinere Stücke erworben oder einfach mitgenommen beziehungsweise verschickt wurden, hat man größere Monumente gezeichnet und beschrieben. Am Beispiel der Zeichnungen in Jacobs Spons (1678) Voyage d'Italie, de Dalmatie, de Grece et du Levant zeigt Kranen, dass die Strategie des Zeichners, die Monumente zu isolieren und zu abstrahieren, auf sein Bild einer idealisierten Antike zurückzuführen ist, während andere Zeichnungen die historische Schichtung betonen. Dass immer Wertzuweisungen bei den Darstellungen und Übernahmen von Monumenten aus der Ferne eine Rolle spielen, zeigt sich auch an religiösen Markierungen von Gebäuden - etwa wenn eine venezianische Kirche in einer Zeichnung Chanias von Jan Peeters (1670-1675) mit einem Halbmond als muslimisch gekennzeichnet wird. Aufschlussreich ist Kranens Untersuchung der Illustrationen, die Joseph Grelot 1680 der Hagia Sophia anfertigte. In seinem Interesse für das Thema der Transformationen des Gebäudes, das Grelot Kirche, Moschee bzw. "temple" nennt, überwiegt keineswegs ausschließlich die Vorstellung des christlichen Vorrangs: den Reisenden faszinierten die ambivalente religiöse Identität der Hagia Sophia.

Annette Kranen hat ein kluges und anspruchsvolles Buch vorgelegt, das durch die vielen untersuchten Beispiele zeigt, wie vielseitig die Bilder waren, die europäische Reisende von historischen Orten im Osmanischen Reich - aus ihrer eigenen Gegenwart heraus - schufen und verbreiteten. Gerade ihre differenzierte Herangehensweise erlaubt es, die faszinierende Pluralität der Zuschreibungen von Reisenden an Orten sichtbar zu machen.

Anna Magnago Lampugnani