Tom Tölle (Hg.): Nikolaus Kindlingers Selbstzeugnis. Ein Archivar am Ende des Heiligen Römischen Reiches, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2024, 434 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52914-7, EUR 65,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Markus A. Denzel / Andrea Bonoldi / Anne Montenach u.a. (Hgg.): Oeconomia Alpium I: Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums in vorindustrieller Zeit. Forschungsaufriss, -konzepte und -perspektiven, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Rudolf Biederstedt: Löhne und Preise in Vorpommern 1500 bis 1627, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2005
Christine Werkstetter: Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2001
Um 1812 schrieb der Archivar Nikolaus Kindlinger, ein ehemaliger Minorit, eine Autobiographie ("Leben, von ihm selbst beschrieben", 45), die sich als "Fundgrube an Informationen zu einer bewegten Zeit" (11) erweist, wie der Herausgeber Tom Tölle in seiner brillanten Einleitung (11-35) hervorhebt. Tölle gelingt es, Kindlingers Intentionen zu entschlüsseln. Seine "zentrale These": "Kindlinger ... versuchte die Genese des 'Experten' als sozialem Typus und die Wichtigkeit von dessen moralischer Integrität auf den Bereich der Schriftgutbehandlung zu übertragen". (13) Deshalb kommt Tölle zu völlig anderen Befunden als Walter Gockeln in seiner fünfzig Jahre alten Münsteraner Dissertation. [1] Gockeln hatte - in den Worten Tölles - gemeint, Kindlinger sei "ein mustergültiger Opportunist mit bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten" gewesen (14). Tölle weist dagegen Kindlinger als einen Vertreter frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit aus, der in der Tradition des "aufgeklärten Mönchtums" (21) stand und seinen Horizont systematisch auf den Feldern der Mathematik, der Kirchengeschichte, Inkunabeln, Numismatik und Siegelkunde erweiterte. Seine Arbeitsfelder waren die Klöster und deren Registraturen sowie die Archivkammern der westfälischen Adligen, in denen er Material suchte, um die Rechtspositionen seiner Mandanten zu erhärten und dadurch Prozesse zu gewinnen. Hierfür brauchte er Glaubwürdigkeit und für diesen Zweck schrieb er, so Tölle, seine Autobiographie: "Kindlingers Selbstzeugnis war somit zuerst einmal selbst eine Authentifizierungs-, also Beglaubigungsstrategie". (30) Hieraus folgten - nach dem Ende des Alten Reiches - "kritische Invektiven gegen das Mönchtum" (30), das Kindlinger in einem Verfallsprozess sah. Dazu benutzte er eine Szene, die er 1785 im Kloster Kentrop bei Hamm erlebte und die Tölle als "Darstellung sexueller Devianz im Mönchsorden" (30) wertet. Laut Tölle "übersetzte sich die moralische Verfallsannahme auch in seine Darstellung der gelehrten Praktiken" (33) - zweifellos eine steile These, die aber nicht unplausibel ist. Denn Kindlinger legte in der Autobiographie vielfach ein reflektiertes Zeugnis ab über das eigene Verhalten. Tölle sieht "hier den Einfluss monastischer, religiös grundierter Introspektion am Werk". (34)
Ist die Einleitung kenntnisreich und voller neuer Einblicke in Kindlingers Aktivitäten, so wirft die Edition der Autobiographie selbst kritische Fragen auf. Die Edition hat nämlich eine eigene Geschichte (15-19). Über die Mainzer Habel und Bodmann gelangte Kindlingers Handschrift an den Altertumsforscher Wilhelm Conrady und den Oberlehrer Friedrich Otto in Wiesbaden; letzterer erstellte 1899 eine kommentierte Abschrift. Der dortige Archivar Otto Meinardus fragte bei seinem Kollegen Friedrich Philippi in Münster nach, ob nicht die Historische Kommission für Westfalen, der Philippi vorstand, Ottos Manuskript drucken wolle. Schließlich hatte Münster 1827 die größeren Teile der Kindlingerschen Sammlung mit Bänden, die Abschriften vor allem mittelalterlicher Quellen erhalten und immer noch eine Basis der landesgeschichtlichen Forschung darstellen. Philippi lehnte ab - aus heute fragwürdigen Gründen. Er fand Kindlingers Text "mehr innerlich als äusserlich interessant" und sah darin keine Spuren "aus der grossen Zeit", die dieser erlebt hatte. Außerdem müssten die "pikanteren Stellen ... unterdrückt werden". (37) Gemeint waren Szenen aus dem Hammer Kloster. Die Korrespondenz von 1899 ist als Anhang der Einleitung beigegeben (36f.). Tölle bohrt nach und analysiert, warum die Edition der Autobiographie um 1900 in Münster scheiterte. Er macht dafür vor allem Philippis enttäuschte Erwartungen und wilhelminische Moralvorstellungen verantwortlich. Das ist nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist dem Rezensenten, warum Tölle Ottos Fußnotenapparat aufnahm. Die Edition, eine paläographische Abschrift ohne Normalisierungen inklusive störender Übernahme der Absätze in der Handschrift, basiert auf dem Exemplar, das 1936 durch Ankauf in die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund gelangte. Erklärt wird sie ausschließlich durch Ottos Anmerkungen von 1899. Tölle begründete das damit, dass so "ein Panorama gelehrter Sammlungspraxis um 1900" (19) zum Vorschein komme. Dies mag ein hehres Unterfangen sein, geht aber auf Kosten der Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts, die bei der Kontextualisierung der vielen von Kindlinger erwähnten Personen und Orte auf sich allein gestellt bleiben und zu eigenen Recherchen genötigt sind. Dies wäre nach Meinung des Rezensenten Aufgabe des Herausgebers gewesen. Ottos mangelnde Kenntnis der Topographie Westfalens schlägt somit voll durch. Der Index (399-431) hilft nicht weiter, denn er ist durchsetzt von kleineren und größeren Fehlern sowie von Auslassungen, wie Stichproben ergaben. Viele der vorkommenden Personen oder Orte sind gar nicht oder falsch aufgenommen. "Swerte" (427) ist Schwerte, "Stelle" (426) Essen-Steele, "Hövel" (411) keine Person, sondern ein Ort (heute Hamm), "Cassel" (403) Mainz-Kastel. Hinzu kommen peinliche Lesefehler: Der "Anenor" Olfers (421) war Assessor am Hofgericht zu Münster.
So legt der Rezensent den hier vorzustellenden Band mit sehr gemischten Gefühlen aus der Hand. Am Beispiels Kindlingers wird die Praxis eines wandernden Archivars im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert deutlich. Die Einleitung des Herausgebers arbeitet seine Motive deutlich heraus und lädt zu weiterführenden Forschungen an der Schnittstelle zwischen Archiven und sich herausbildender Landesgeschichte ein. Wer sich aber mit dem edierten autobiographischen Text selbst befassen will, erfährt vom Herausgeber wenig Unterstützung.
Anmerkung:
[1] Walter Gockeln: Johannes Nikolaus Kindlinger. Sammler, Archivar und Historiograph in der Nachfolge Justus Mösers. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, in: Westfälische Zeitschrift 120 (1970), 11-202, ebd. 121 (1971), 37-70.
Wilfried Reininghaus