Rezension über:

Sven Jaros: Iterationen im Grenzraum. Akteure und Felder multikonfessioneller Herrschaftsaushandlung in Kronruthenien (1340-1434) (= Europa im Mittelalter; Bd. 41), Berlin: De Gruyter 2021, XXII + 564 S., ISBN 978-3-11-074844-4, EUR 109,95
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Rezension von:
Alexander Baranov
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Baranov: Rezension von: Sven Jaros: Iterationen im Grenzraum. Akteure und Felder multikonfessioneller Herrschaftsaushandlung in Kronruthenien (1340-1434), Berlin: De Gruyter 2021, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 6 [15.06.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/06/39283.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Sven Jaros: Iterationen im Grenzraum

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Sven Jaros untersucht in seiner Dissertation die polnische Herrschaftsetablierung in Kronruthenien (poln. Ruś koronna), das heißt im Gebiet des ehemaligen rus'ischen Fürstentums Halyč-Volyn' (Galizien-Wolhynien, heute in Polen und der Ukraine), das seit 1340 von Kazimierz III. von Polen (1333-1370) etappenweise erobert wurde. Die Studie endet chronologisch mit der Entstehung der polnischen Woiwodschaft Ruthenien 1430-1434 unter Władysław II. Jagiełło (1386-1434). Zum behandelten Zeitraum gehört die kurze Phase der ungarischen Herrschaft (1378-1386).

Den Band eröffnet eine Hinführung, in der die Forschungslage, Fragestellung, Methode und das Quellenkorpus vorgestellt werden (1-44). Zur bisherigen Forschung merkt Jaros an, dass die polnische katholische Herrschaft über die meist orthodoxe Bevölkerung Kronrutheniens ein umstrittenes Thema in der polnischen, ukrainischen und russischen Mediävistik seit dem 19. Jahrhundert geblieben sei. Die Bewertung der Ereignisse bewege sich zwischen "Modernisierung" und "Verdrängung" (8). Der Verfasser formuliert sieben Leitfragen seiner Arbeit ("Funktionsgesetze" und "Ableitungen"), die mit Hilfe der diplomatischen und praxeologischen Methode bei der Urkundenanalyse behandelt werden sollen. Die urkundliche Überlieferung der Region Kronruthenien bildet dabei das wichtigste Quellenkorpus für die vorliegende Untersuchung. Laut dem Verfasser sollen unterschiedliche Empfängergruppen der königlichen Urkunden in Kronruthenien analysiert werden, um die Praktiken, Prozesse und Dynamiken der polnischen Herrschaftsetablierung in der Region näher zu bestimmen. Das Amt des "Anführers Rutheniens" (Capitaneus Russie), eines Vertreters der königlichen Herrschaft in Kronruthenien, betrachtet der Verfasser in diesem Kontext als besonders wichtig.

In einem kurzen Kapitel "Halyč-Volyn' im Kontext des östlichen Europa im Spätmittelalter" behandelt Jaros verschiedene Erbansprüche der benachbarten Mächte und andere Herrschaften auf das Fürstentum Galizien-Wolhynien. Danach folgen die Hauptkapitel der Arbeit, die die historischen Entwicklungen in Kronruthenien chronologisch darstellen: 3."Eroberung und zaghafte Integration unter Kazimierz III. (1340-1370)"; 4. "Zwischen polnischen Verflechtungen und ungarischer Herrschaft (1370-1386)"; 5. "Wiedereingliederung Kronrutheniens und gemeinsame Herrschaft Jadwigas und Władysław II. Jagiełłos (1387-1398)"; 6. "Kronruthenien in Zeiten des Krieges und der Herrschaftskonsolidierung (1399-1423)" und 7. "Die Zeit der Nachfolgeregelung (1424-1434)". Die Kapitel 3 und 6 enthalten Exkurse zur kirchlichen Organisation Kronrutheniens. Zwei letzte Kapitel - "Konfigurationen eines Herrschaftsraumes: Vom alter orbis zur Wojewodschaft" und die "Schlussbetrachtungen" - bieten eine zusammenfassende Analyse und allgemeine Bewertung der behandelten Urkunden und der einleitend formulierten Fragestellung. Danach folgt ein ausführliches "Repertorium diplomatum terrae Russie Regni Poloniae" (285-474), wo Kurzregesten aller Urkunden der Herrscher, Herrscherinnen und "Anführer Rutheniens" für Kronruthenien 1345-1434 systematisch-chronologisch geordnet werden. Nach Quellenabbildungen und genealogischen Stammbäumen ruthenischer Geschlechter folgt ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Der Band wird von einem Orts- und Personenregister abgeschlossen.

Während die beiden ereignisgeschichtlichen Teile eher skizzenhaft gehalten sind, folgen die Hauptkapitel der Arbeit (3-7) einer jeweils ähnlichen Konzeption. Der Verfasser charakterisiert kurz das entsprechende Quellenkorpus und behandelt dann ausführlich verschiedene Empfängergruppen der Urkunden, wie zum Beispiel Personen ruthenischer, ungarischer, walachischer, kleinpolnischer Herkunft, Geistliche oder Vertreter der städtischen Bevölkerung. In einem Unterkapitel werden die "Anführer Rutheniens" - ihre Personen, Tätigkeit und ausgestellten Urkunden - analysiert. Am Ende der Hauptkapitel erscheinen jeweils kurze Zusammenfassungen.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen ein komplexes Bild, was in einer so facettenreichen, von verschiedenen ethnisch-konfessionellen Gruppen geprägten Region wie Kronruthenien nicht verwundern soll. Der Verfasser betont, dass die verbreitete These einer Marginalisierung der ruthenischen Akteure unter polnischer Herrschaft nicht bestätigt werden könne. Im Kontext der analysierten Urkunden verweist Jaros auf die zahlreichen Bestätigungen von früheren (auch vorgeblichen) ruthenischen Besitzansprüchen. Ruthenische und lateinische Urkunden existierten lange Zeit parallel. Nur für die 1420er Jahre kann eine Reduzierung der ausgestellten ruthenischen Urkunden beobachtet werden. Immerhin blieb diese Sprache für die rechtlichen Angelegenheiten auch in den folgenden Jahrhunderten relevant.

Die "Anführer Rutheniens" spielten eine wichtige Rolle als Vermittler und Ansprechpartner für die ruthenischen Akteure in ihren Beziehungen mit der polnischen bzw. ungarischen Herrschaft. Die meisten davon waren polnischer Herkunft, wobei gegen Ende des Untersuchungszeitraums einige ruthenische Amtsträger erscheinen. Der Verfasser betont, dass diese "Anführer" keine neutralen Beamten waren. Sie benutzten ihre Stellung als eine Station auf ihrem weiteren Karriereweg in Polen oder strebten nach Besitzungen in der Region. Immerhin soll es im historischen Kontext nicht überraschen, dass die Verwalter einer bedeutenden und reichen Region ihre Eigeninteressen hatten. Wie Jaros bemerkt, wurde Kronruthenien schon seit Kazimierz III. zu einem "Ermöglichungsraum" für ehrgeizige Adlige. Unter Władysław II. Jagiełło fungierte Kronruthenien sogar als ein "Belohnungsraum" für verdiente Krieger.

Die päpstliche Politik gegenüber Kronruthenien wird in der vorliegenden Untersuchung kaum analysiert. Gerade die in der Forschung umstrittene Frage der konfessionellen katholisch-orthodoxen Verhältnisse in Kronruthenien unter polnischer und ungarischer Herrschaft bleibt etwa randständig. Der Verfasser bemerkt, dass "zur Zeit Kazimierzs noch nicht von einer faktischen Eingliederung Kronrutheniens in die lateinische Obödienz ausgegangen werden kann", und meint, dass die älteren Forschungsmeinungen zu einer Missionspolitik von Kazimierz zu weit gegangen seien (83 folgend). In der vorliegenden Untersuchung wird von den für die geistlichen katholischen und orthodoxen Institutionen erstellten Urkunden folgendes Bild gezeichnet: Für die Periode Kazimierz III. 1340-1370 sei in den Urkunden die Kirchenpolitik nicht greifbar; 1370-1386 wurden Urkunden für Franziskaner und Dominikaner sowie für den armenisch-lateinischen Bischof von Kyjiv erstellt; 1387-1398 sind ausschließlich Urkunden für katholische Institutionen überliefert; 1399-1423 erscheint auch die orthodoxe Empfängergruppe, aber die katholischen Geistlichen sind immer noch viel zahlreicher vertreten; 1424-1434 ist schließlich nur eine einzige Urkunde für einen orthodoxen geistlichen Empfänger überliefert, wobei die katholischen Institutionen und Personen in dieser Periode mehrere Urkunden von Władysław II. Jagiełło erhielten. Insgesamt kann mit Sicherheit eine Dominanz der katholischen institutionellen Empfängergruppen im Kontext des überlieferten Urkundenkorpusses Kronrutheniens 1340-1434 festgestellt werden. Die religiös-konfessionelle Politik der polnischen beziehungsweise ungarischen Herrscher in Kronruthenien hätte stärker betont werden können, da diese Fragen im Mittelalter bekanntlich eine außerordentlich wichtige Rolle spielten.

Kleinere kritische Bemerkungen betreffen einige Druck- oder Tippfehler, wie zum Beispiel "Forschuxngtraditionen" (XXI), "насдедники" statt "наследники" (zum Beispiel 221, 536) oder " проблема васальної залежності дмитра детка вів угорського корола Людовiка I" statt " проблема васальної залежності Дмитра Детька від угорського короля Людовика I" (534).

Insgesamt liegt mit der Untersuchung von Jaros eine solide Studie vor, welche unterstreicht, dass die Stellung Kronrutheniens in der polnischen bzw. ungarischen Herrschaftspolitik viele Nuancen umfasste. Das von Jaros erstellte "Repertorium" kann als gute Grundlage für weitere Beschäftigungen mit der Geschichte Kronrutheniens dienen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung werden sicherlich zu weiteren Diskussionen in der polnischen und ukrainischen Forschung anregen.

Alexander Baranov