Georgiy Kasianov: Memory Crash. Politics of History in and around Ukraine, 1980s-2010s (= Historical Studies in Eastern Europe and Eurasia; Vol. 7), Budapest: Central European University Press 2022, viii + 407 S., ISBN 978-963-386-380-0, EUR 88,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Geschichtspolitik beschäftigt sich mit Identitätsfragen. Was und wie erinnert wird, spiegelt das Selbstverständnis wider, das Erinnerungsakteure im Diskurs verankern möchten. In Europa haben staatliche sowie nicht-staatliche Akteure unterschiedliche Einheiten identifiziert, auf die dieses Selbstverständnis abheben soll: die Nation, transnationale Gemeinschaften (wie die Europäische Union) oder vergangene imperiale Konstrukte (wie die Sowjetunion oder die Habsburgermonarchie). Bestimmte historische Begebenheiten, die Erinnerungsakteure als identitätsstiftend einordnen, werden in ein erinnerungspolitisches Narrativ überführt, das für bestimmte Interessen der Gegenwart funktionalisiert werden kann. Aus dieser Logik ergeben sich automatisch Leerstellen: Sobald Narrative, beispielsweise für den erinnerungspolitisch festgelegten Wertekanon, nicht nutzbar gemacht werden können, werden bestimmte Themen und Personen zu weißen Flecken in der politischen Erinnerungslandschaft.
An diese Überlegungen anschließend, hat Georgiy Kasianov eine umfangreiche und analytisch überzeugende Studie über Geschichtspolitik in und über die Ukraine zwischen den 1980er und 2010er Jahren geschrieben. In seinem Buch analysiert der Leiter des Laboratory of International Memory Studies der Maria Curie-Skłodowska Universität in Lublin aus einer transnationalen Perspektive die Entwicklungen von Erinnerungsdiskursen in und um die Ukraine. Kasianov benennt und untersucht die Akteure und Praktiken, die diese Diskurse formen und Vergangenes für Interessen der Gegenwart nutzen, ohne die eigene Zunft der Historikerinnen und Historiker als memory agents auszunehmen. Kasianov macht auch transparent, dass er aufgrund seiner Forschung selbst in Erinnerungskämpfe eingebunden war. Ihm wurde seine Kritik daran, wie bestimmte Akteure die Erinnerung an den Holodomor funktionalisieren, unter anderem als Genozidleugnung ausgelegt (XI). Diese Polemik, die Kritik an memory-Diskurspraktiken mit einer Leugnung historischer Gegebenheiten gleichzusetzen, ist ein wiederkehrendes Phänomen erinnerungspolitischer Debatten.
Kasianov gliedert seine Monografie in drei große Kapitel, die erstens Konzepte zu Erinnerung und Geschichtspolitik, zweitens erinnerungspolitische Akteure und drittens ihre Praktiken in den Mittelpunkt stellen. Bei den Akteuren beschränkt er sich nicht nur auf staatliche agents, sondern nimmt auch lokale Institutionen und Historikerinnen und Historiker in den Blick. Im dritten Kapitel beschreibt er die Praktiken der Geschichtspolitik in und um die Ukraine und geht unter besonderer Berücksichtigung regionaler Besonderheiten auf spaces of memory (physische und mentale Repräsentationen) ein, die durch diese Praktiken Gestalt annehmen. Im letzten Unterkapitel des dritten Kapitels beleuchtet er Geschichtspolitik als außenpolitisches Instrument und führt die ukrainischen Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarstaaten Polen und der Russländischen Föderation aus.
Das erste Kapitel zu Konzepten, über die Kasianov den Untersuchungsgegenstand aufschlüsselt, ist auch für weiterführende Forschungsfragen ein großer Gewinn. Kasianov stützt sich unter anderem auf drei Modelle (exclusivist, inclusivist und ambivalent) von historical politics. Das exclusivist Modell schreibt eine Homogenisierung von historischer Erinnerung vor, die von einer "wahren" Version der Vergangenheitserzählung ausgeht. Die Anhänger dieses Modells lehnen Pluralismus ab. Die Vereinheitlichung des Narrativs wird durch die Exklusion anderer Narrative erreicht. Das inclusivist model sichert die kulturelle und politische Homogenisierung durch die Inklusion von nicht-antagonierenden Narrativen (20). Diese Modelle können gleichzeitig auftreten. Kasianov nennt hier das Beispiel der Common European history, die dem inclusivist model zuzuordnen sei, aber Attribute des exclusivist models aufweise, da sie Narrative von Ethnozentrismus und Xenophobie ausschließe (21).
Der Verfasser argumentiert, dass Erinnerungsakteure in der Ukraine Schwierigkeiten hätten, ein vereinheitlichendes Erinnerungsnarrativ zur Geschichte des Landes zu etablieren, da sich die Ukraine über regionale Heterogenität auszeichne. Entsprechend reiben sich seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 und dem Ende der Sowjetunion vergangene und neu entstandene Narrative zur ukrainischen Geschichte beim Versuch einer Kanonisierung heftig aneinander. Kasianov stellt für die Ukraine zwei große Erinnerungsnarrative fest, die beide zum exclusivist model zu zählen sind: national/nationalist und Soviet nostalgic (19). Eine seiner zentralen Thesen lautet, dass die Akteure, die für eine Abkehr von sowjetischen und imperialen Narrativen der Vergangenheit kämpfen und in ihren Diskursen die "Nation" im Blick haben (national/nationalist), hinsichtlich ihrer Methoden und Rhetorik paradoxerweise vergangenen sowjetischen Praktiken ähneln. Beide lassen keine plurale Aushandlung der Erinnerung zu und diktieren das Narrativ zur "historischen Wahrheit". Als Beispiel führt Kasianov unter anderem die Dekommunisierungsgesetze zwischen 2015 und 2019 an, die trotz regionaler Proteste die Entfernung sowjetischer Symbole durchsetzten.
Im zweiten Kapitel stehen die staatlichen, nicht-staatlichen und regionalen Erinnerungsakteure im Mittelpunkt, die seit den 1980er Jahren Erinnerungsdiskurse in und um die Ukraine geformt haben. Kasianovs Untersuchung einzelner Institutionen, wie des Ukrainian Institute of National Memory (UINP), legt überzeugend dar, dass auch nicht-staatliche Akteure diskursmächtig agieren und Narrative in der öffentlichen Debatte platzieren können. Kasianov resümiert, dass kulturelle und politische Gruppen, die ein nationales Erinnerungsnarrativ vertreten, es nicht vermocht hätten, nach der Unabhängigkeit der Ukraine neue Diskurspraktiken, wie dialogische Aushandlung, zu etablieren, sondern dem exclusivist model des letzten Jahrhunderts verhaftet geblieben seien (246). Kasianov kritisiert, dass die genannten staatlichen Akteure mit erinnerungspolitischen Debatten meist bewusst von sozialen und wirtschaftlichen Themen ablenken.
Vertreter der beiden konkurrierenden Narrative (Soviet nostalgic und national/nationalist) haben Themen gewählt, die sie für ihre Interessen in eine identitätsstiftende Vergangenheitserzählung eingliedern konnten. Bis in die 1990er Jahre war die Person Lenin für (staatliche und nicht-staatliche) Soviet nostalgic-Vertreter ein zentrales Symbol. An den zunehmenden Umstürzen von Lenin-Denkmälern seit den 2000er Jahren entzündeten sich entsprechend hitzige Debatten. Bei Erinnerungsnarrativen zum Zweiten Weltkrieg konzentrieren sich Soviet nostalgic Vertreter auf den Topos des "Großen Vaterländischen Krieges". Betont werden hier die dichotomen Motive des Heldentums der Roten Armee und der Leiderfahrung der sowjetischen Bevölkerung. Politisierte Narrative zu "Kollaboration" und "Widerstand" blenden Ambivalenzen des Besatzungsalltags aus. Auch die Verstrickung in Verbrechenskomplexe, wie die Shoah, wird auf ukrainische nationalistische Gruppen ausgelagert. Die Vertreter der national narrative bemühen sich seit den 2000er Jahren darum, den Holodomor als zentralen lieu de mémoire zu etablieren. 1932-1934 fielen Schätzungen zufolge 3,9 Millionen Menschen in der Ukrainischen SSR der stalinistischen Hungerpolitik zum Opfer. [1] Durch Denkmäler und neu eingeführte Gedenkfeiern ist es laut Kasianov erinnerungspolitischen Akteuren gelungen, den Holodomor auf der mental map der ukrainischen, aber auch internationalen Öffentlichkeit als einen Genozid an Ukrainern zu platzieren. Doch auch hier zeigen sich exclusivist Diskurspraktiken. Diskussionen zur Komplexität des Begriffs "Genozid" werden oftmals mit Genozidleugnung gleichgesetzt. Beide Narrativrichtungen produzieren klare Leerstellen, die Ambivalenzen ausklammern. Kasianov verweist darauf, dass die Erinnerung an Verfolgtengruppen während der deutschen Besatzung, wie die jüdischen Opfer der Shoah sowie auch Sinti und Roma, nur peripher erinnert werden.
Ein wichtiges Verdienst des Buches ist der transnationale Ansatz, der die Geschichtspolitik in und um die Ukraine im europäischen Kontext verortet. Dabei zeigt Kasianov einmal mehr, dass die Perspektive, das östliche Europa sei im Vergleich zum westlichen Europa durch tiefere Kluften in ihrer Erinnerungspolitik gespalten, fehlgeleitet ist. Auch die EU und einzelne westeuropäische Länder haben eine komplexe erinnerungspolitische Agenda, die nach der Erweiterung um ostmitteleuropäische Staaten 2004 oftmals hegemonial in Erscheinung trat (42).
Kasianovs Monografie besticht durch methodische und argumentative Klarheit. Der Verfasser nimmt große Akteursgruppen in den Blick, um Diskurse als von Interessengruppen gemachte Narrative, die in spezifischen historischen und politischen Kontexten entstehen, zu entschlüsseln. Seine Studie kann auch als Plädoyer gelesen werden, die regionalen Besonderheiten der Ukraine bei der Untersuchung von Erinnerungsdiskursen dezidierter zu untersuchen. Obwohl Geschichte in ganz Europa als politisches Instrument genutzt wird, dient Geschichtspolitik nur der Russländischen Föderation als Basis und Argument für Expansion, Aggression und Krieg. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Erinnerungspolitik in der Ukraine durch den Angriffskrieg Russlands weiter entwickeln wird.
Anmerkung:
[1] Siehe unter anderem das Projekt "Mapping the Great Famine" des Ukrainian Research Institute der Harvard Universität, https://gis.huri.harvard.edu/demographic-research (10.05.2023).
Laura Eckl