Rezension über:

Manfred Clemenz: Van Gogh: Manie und Melancholie. Ein Porträt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 456 S., 59 Farb-, 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51594-2, EUR 55,00
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Rezension von:
Norbert Andersch
Praelo/Prela (IM)
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Andersch: Rezension von: Manfred Clemenz: Van Gogh: Manie und Melancholie. Ein Porträt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/35505.html


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Manfred Clemenz: Van Gogh: Manie und Melancholie

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Vincent van Gogh. Jeder von uns kennt seinen Namen und jeder glaubt seine wichtigsten Bilder zu kennen. Die Szenerien seiner Landschaften und seine (Selbst)portraits sind weltweit bekannter als die von Rembrandt und Picasso und auch sonst: wer hat nicht von seinem abgeschnittenen Ohr gehört, dass er krank, wenn nicht gar verrückt war, endend mit seinem frühen, ungeklärten Tod, möglicherweise gar Selbstmord.

Nie hat er ein Bild verkauft; ein tragisches Künstlerschicksal eben, das einen irgendwie berührt. Die Bilder selbst: faszinierend. Die Farben: bizarr aber eindrucksvoll. Den endlosen Reproduktionen seiner Werke entkommt man nicht. Weder im privaten noch im öffentlichen Raum. Ein Massenphänomen. Und ein großes Geschäft. Zwischen 50 und 100 Millionen $ wurden zuletzt für auktionierte 'Van Goghs' bezahlt. Das ist krass, wenn man bedenkt, dass er selbst zeitweilig nicht genug zu essen hatte.

Mehr als ein Dutzend Mal ist sein Leben episch verfilmt worden. Endlose medizinische und andere Expertisen versuchten, seiner bizarren Persönlichkeit Herr zu werden. Unzählige Bücher wurden über ihn geschrieben. Allein die Deutsche Zentralbibliothek in Frankfurt nennt fast 700 Buchpublikationen. Mehrere Opern und Sinfonien, Klavierkonzerte und Bühnendramen haben ihn zum Thema - und selbst Don McLean hat ein schön trauriges Lied ("Vincent") über den Unverstandenen ("They would not listen, they did not know how") geschrieben. Einen Ohrwurm (1971 No 1 der UK Charts und ein Top 10-Hit in fast allen westlichen Staaten) den jeder kennt. Neuerdings versucht die Digitalplattform 'VanGoghWorldwide' jede noch so erdenkliche Anfrage zu ihm zu befriedigen. Vincent wäre sehr erstaunt, wenn er das alles wüsste.

Mehr von Vincent also, als der beste Van Gogh Liebhaber verkraften kann. Und doch liegt jetzt seit 2020 nochmals eine neue, umfangreiche Biografie über ihn vor: Manfred Clemenz, "Van Gogh, Manie und Melancholie, ein Portrait", stolze 450 Seiten, 55 € Ladenpreis, mit umfangreichen Anmerkungen, einem Literaturverzeichnis, wissenschaftlichem Anhang und Personenregister, einem ausführlichen Verzeichnis der 72 farbigen Abbildungen; mehr ein Handbuch denn eine Lebensbeschreibung.

Wer sich fragt, was da zu dem noch hinzukommt, was man über van Gogh zu wissen glaubt, wird bei Manfred Clemenz noch einiges finden, weil er genauer hinsieht, sich einen neuen Blick erlaubt und manchen Mythos geraderückt.

Und weil Clemenz zu ordnen versucht, was eine durchweg chaotische Existenz war. Eine Gliederung in 15 Kapiteln einschließlich der weniger bekannten Orientierungspunkte und 'landmarks' seines Lebens:

- Van Goghs pietistische Prägung und seine vergeblichen religiösen Selbstfindungsversuche

- Seine hilflose Odyssee durch vielfältige Schul-, Lehr- und Lernstellen

- Seine immer wieder scheiternden Liebesbeziehungen zu Frauen in einem Mäandern zwischen Romantik und Hurenhaus

- Das anrührend symbiotische Verhältnis zu seinem Bruder Theo und deren lebenslangen faszinierenden Briefwechsel

- Seine radikalen politischen Ansichten und sein Verständnis der Malerei als soziale Aufgabe

- Seine fragmentarisch unabgeschlossene Farb- und Kunsttheorie

- Seine Konflikte, seine Konkurrenz und seine grandiosen Zukunftsprojektierungen mit zeitgenössischen avantgardistischen Künstlern

Ganz sicher hilfreich für den Leser, um dem Protagonisten durch die Turbulenzen, Ekstasen und Abgründen seines Malerschicksals zu folgen, und "folkloristische Gewissheiten" über Van Gogh endlich zu den Akten zu legen.

Nicht nur die 20 oder 30 'Van Goghs', die wir alle irgendwo gesehen haben, sondern mehr als 2000 Kunstwerke hat er geschaffen. Davon allein 800 Ölgemälde und das im einer artistischen 'Tour de Force' zwischen Agonie und Schaffensrausch in wenig mehr als zehn Jahren.

So arm wie wir glauben, war er definitiv nicht. Sein Elternhaus solide. Eher gehobenes Bürgertum. Sein Vater, ein protestantisch-pietistischer Pastor. Ein den ältesten Sohn prägender christlicher Fundamentalist, von dessen übergewichtigem Einfluss Vincent sich nur mühsam zu befreien versucht. Seine ihn immer, wenn oft auch vergeblich und ratlos unterstützende Familie war verbunden und verschwägert mit drei Onkeln, erfolgreichen Kunsthändlern und königlichen Hoflieferanten in London, Paris, Brüssel und den Haag, wo Vincent Lern- und Lehrjahre verbrachte.

Vincent genoss eine frühe, private Bildung über die Mutter und eine Gouvernante, besuchte ein Edel-Internat und eine höhere Knabenschule; erhielt teuren und professionell erstklassigen Mal- und Zeichenunterricht; schon in seiner früheren Pubertät und später erneut durch namhafte Maler. Er versucht sich als Kunsthandelslehrling und als Lehrer, als Theologiestudent und als Prediger, als anarchistischer Sympathisant verelendeter Bergarbeiter, als Leidender und unverstandener Asket in der Nachfolge Christi und als Vordenker für Gruppeninitiativen progressiver Maler gegen eine elitär-bürgerliche Kunstpraxis.

Sein Vater - später noch mehr sein bewundernswert selbstloser Bruder - waren unermüdlich, ihre vielfältigen Verbindungen nutzend, um für Vincent Lebensweg und 'Karriere' leichter zu machen, seine Inkonsistenz zu ertragen, seine Launen auszugleichen, seine Schulden zu bezahlen, und: seine Bilder zu verkaufen, was, (anders als im 'arme Künstler Mythos van Goghs') dem rührigen und weitsichtig kunstverständigen Bruder Theo mehr als einmal gelingt.

Dennoch: kein leichtes Unterfangen bei einer Persönlichkeit, die sich ständig (neben Konflikten mit Dienstherren, Partnerinnen oder berühmten Malerkollegen), durch extreme physische und mentale Zustandswechsel hin- und hergeworfen fühlte.

W. Clemenz vorsichtiger Umgang mit Diagnosezuschreibungen ist dabei lobenswert. Heute liegt nahe, dass Van Gogh an Stoffwechselstörungen (Porphyrie), epileptischen Visionen, präepileptischen Spannungen und postepileptischen Dämmerzuständen litt, an Absinthmissbrauch, depressiv-manischen Schwankungen bis hin zur psychotischen Entgleisung; seinerzeit nur schwer diagnostizierbare oder therapierbare Erkrankungen oder Kombinationen von ihnen.

Van Gogh litt darüber hinaus, wie W.Clemenz (Anm.1) sagt, "an Allem: an der Kunst, an Frauen, an der Politik und an seiner Erfolgslosigkeit .... und doch war van Gogh extrovertiert, leidenschaftlich bis zur Manie, stets auf der Suche nach Exstase." Auch verstand er seine Malerei als dezidiert soziale Aufgabe, nämlich durch künstlerische Wahrhaftigkeit "Trost" zu spenden. Er, der selbst öfter Trost gebraucht hätte; dazu "lebensgefährlich geschäftsuntüchtig" (M.Clemenz), mit einem "Riss in seiner Welt, der doch eine zentrale Triebfeder seines künstlerischen Schaffens" war und blieb.

Autor Clemenz versucht vieles zusammen zu bringen. Van Goghs Leben und Werk, eine psychologische Synthese seiner Person und eine vermeintliche Kunsttheorie. Gefasst in ein hilfreiches, aber vielleicht etwas zu starres, Korsett um das vielschichtige Wesen des so Porträtierten zu erfassen. Doch derart Konträres widersetzt sich einer Gesamtschau und darf ruhig als gelebte Spannung stehenbleiben: Van Goghs Gemeinschaft mit den (heute!) großen Künstlern seiner Zeit. Streitigkeiten, Freundschaften und weitreichende Kooperationspläne. Direkt daneben persönliches Drama und Tragik, Depression und Ekstase, die dem Künstler selbst die banalste Alltagsroutine verunmöglichen.

Van Goghs einzige Konstante in dieser, ihm unverfügbaren Welt sind die sich endlos wiederholenden Suchbewegungen zwischen Realität und seelischer Impression, die für uns als heutige Betrachter großartige und brillante bildnerische Ergebnisse gezeitigt haben, ihn aber allenfalls kurz beruhigten, um ihn dann - fast wie im Sisyphosmythos - zu immer wieder neue Anläufen zu zwingen. Eine eigentliche "Kunsttheorie" des Malers kann der Autor M.Clemenz (trotz aller Bemühungen und unzweifelhafter Kompetenz) aus all dem nicht destillieren. Dies wäre auch merkwürdig bei einem Getriebenen, dessen Mischung aus Wankelmut, Realitätsverkennung, Depression und grundloser Euphorie sich genauso in seinen schriftlichen Zeugnissen wiederfindet, den hunderten eindrucksvoller und außergewöhnlicher Briefe.

Die Suche von Künstlern nach einem verlässlichen Halt in solch innerer Zerrissenheit durchzieht die gesamte Kunstgeschichte, und nur selten erwächst aus dieser Qual eine wirksame Therapie. Der Kunsthistoriker Aby Warburg entkam letztlich seinen, ihn Jahrzehnte verfolgenden, bizarren, autistisch-psychotischen Angstzuständen (siehe Anm. 2). Ihm gelang eine wundersame Rettung; eine erstaunlichen Selbstheilung durch die Nutzung stabilisierender Formgebungen in Figur und Bild (Pathosformeln), die eine schier unerträgliche innere Spannung zu Ruhe und gelassener Gestaltungskraft umzuformen vermag. Eine heilsame Erfahrung, die er versucht hat in seinem (posthumen erschienenen) Werk 'Mnemosyne' weiterzugeben (siehe Anm. 3). Dieser Weg blieb Van Gogh - gute 50 Jahre früher - versperrt, und endet mit seinem frühen Tod.

W.Clemenz' Buch ist kein Portrait, vielmehr ein Handbuch. Der Untertitel (Manie und Melancholie) knüpft leider an vielbemühte Klischees an und ist zu eng gefasst, denn Clemenz' Sorgfalt und Kenntnis der Van Gogh'schen Welt gehen weit über psychopathologische Erwägungen hinaus. Seine Abwägung von Ereignissen und die dazu notwendige Kenntnis abweichender Biographien und Expertisen ist sorgfältig, seine bis ins Detail durchgehaltene Genauigkeit grenzt gelegentlich an einen Seziervorgang, der den Menschen Van Gogh dann eher verblassen lässt. Van Goghs Aura, seine Magie, seine Faszination und die gottseidank nicht zugänglichen Rätsel seiner innersten Geheimnisse treten so zu sehr in den Hintergrund.

Bei W.Clemenz' punktuell allzu akademischen Einlassungen finden sich querschnittliche Liebhaber des Malers (wie ich selbst) ab und an in kunsttheoretischen Debatten wieder. Das schadet nicht, führt aber zu Längen und Wiederholungen. Der Autor möchte wohl (zu Recht) auch in der Expertendebatte ein letztes Wort mitreden.

Trotz kleinerer Einwände: sollte ich nur ein Van Gogh Buch mitnehmen dürfen auf die Insel, es wäre dieses. Erstaunlich viel Neues über einen scheinbar allzu Bekannten, mit vielen brillanten Farbdrucken der Werke des Künstlers.


Anmerkungen:

(1) M. Clemenz: "Van Gogh - Metaphysiker und Revolutionär", Interview vom 04/08/20 mit dem Autor über den Menschen und Künstler Vincent van Gogh, in: L.I.S.A Wissenschaftsportal, 2020, Gerda-Henkel-Stiftung.

(2) N. Andersch: Madman and Philosopher: Ideas of Embodiement between Aby Warburg and Ernst Cassirer. Dial Phil Mental Neuro Sci; 10(1), 2017, 14-22.

(3) A. Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne in: Gesammelte Schriften - Studienausgabe, hgg. v. U. Pfisterer / H. Bredekamp / u.a., Berlin 2011/12.

Norbert Andersch