Rezension über:

Maria Kanellou / Chris Carey (eds.): Palladas and the Yale Papyrus Codex. (P. CtYBR inv. 4000) (= Papyrologica Lugduno-Batava; Vol. XXXIX), Leiden / Boston: Brill 2022, X + 108 S., ISBN 978-90-04-52134-6, EUR 116,63
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Silvio Bär
Universitetet i Oslo
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Silvio Bär: Rezension von: Maria Kanellou / Chris Carey (eds.): Palladas and the Yale Papyrus Codex. (P. CtYBR inv. 4000), Leiden / Boston: Brill 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/38000.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Maria Kanellou / Chris Carey (eds.): Palladas and the Yale Papyrus Codex

Textgröße: A A A

Die altgriechische Dichtung ist seit der Jahrtausendwende durch einige Papyrusfunde bereichert worden, von denen mindestens zwei recht eigentlich als spektakulär bezeichnet werden können: zum einen über hundert neu entdeckte Epigramme in gesamthaft ca. 600 Versen des hellenistischen Epigrammatikers Poseidipp von Pella, erstmals veröffentlicht kurz nach der Jahrtausendwende [1], zum anderen - nur eine gute Dekade später - neu gefundene (und, wie die bis heute nicht abreißenden Diskussionen zeigen, unter möglicherweise sinistren Umständen akquirierte) Fragmente der archaischen Lyrikerin Sappho, darunter ein fast vollständig erhaltenes, zuvor unbekannt gewesenes Gedicht (das sog. "Brüdergedicht"). [2] Demgegenüber hat die Veröffentlichung des sog. "Neuen Palladas" durch Kevin W. Wilkinson im Jahre 2012 [3] kaum öffentliches - und auch in der Fachwelt vergleichsweise nur laues - Interesse geweckt. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein; eine wichtige Rolle spielt bestimmt der Umstand, dass die ca. sechzig Gedichtfragmente des sogenannten "Yale Papyrus Codex", der seinerseits auf einer Rekonstruktion aus verschiedenen, 1996 von der Beinecke Library der Yale University aufgekauften Papyrusfragmenten besteht, in denkbar schlechtem Zustand sind und somit bisher über Spezialistenkreise hinaus wenig öffentlichkeitswirksames Potential entfalten konnten. Ein anderer Aspekt dürfte eher inhaltlicher Natur sein, denn Palladas, dessen Datierung zwischen frühem und spätem 4. Jahrhundert n.Chr. schwankt [4] und unter dessen Namen bereits zuvor in der Anthologica Graeca ca. 160 Epigramme überliefert waren, bietet mit seinem Hang zu Spott, Selbstmitleid und Misanthropie vielleicht nicht immer eine allzu erbauliche Lektüre.

Dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - ist das Erscheinen des hier anzuzeigenden, von Chris Carey und Maria Kanellou herausgegebenen Sammelbandes, der auf eine 2014 am University College London abgehaltene Konferenz zurückgeht, sehr zu begrüßen. Eine knappe, aber nützliche Einleitung (1-7) führt in die Thematik ein; darauf folgen sieben Beiträge, welche - der Ausrichtung der Buchreihe entsprechend - allesamt einen papyrologischen Schwerpunkt aufweisen, darüber hinaus aber auch philologisch sowie literatur-, motiv- und gattungsgeschichtlich viel Neues und Wissenswertes bieten. Die beiden Herausgeber eröffnen den Band mit ihrem eigenen Beitrag, in welchem sie denjenigen Abschnitt des Yale-Papyrus, dessen Fragmente üblicherweise als 'politisch' angesehen werden, einer frischen Analyse unterziehen ("Observations on the Yale Papyrus Codex: Epigrammatic Grouping and Subgeneric Variety", 7-20). Hier wie auch im nächsten Beitrag von Lucia Floridi ("Skoptic Epigram in the Yale Papyrus Codex", 21-29) spielt u.a. die Frage nach der Nützlichkeit der generischen bzw. subgenerischen Gattungsbezeichnungen "epideiktisch" und "skoptisch" eine Rolle; in beiden Beiträgen wird - mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung - gezeigt, dass die auf den byzantinischen Kompilator Konstantinos Kephalas zurückgehende Einteilung der Gattung 'Epigramm' in unterschiedliche Subgattungen oft zu rigide ist und der literarischen Realität der Antike in manchen Fällen nicht gerecht wird.

Inhaltlichen Berührungspunkten zwischen Palladas' in der Anthologia Graeca überlieferten Epigrammen und den Fragmenten des Neuen Palladas spürt sodann Kathryn Gutzwiller nach ("Palladas Sequences in the Greek Anthology and the Yale Papyrus Codex", 30-41). In diesem Beitrag wird (meines Erachtens überzeugend) gezeigt, dass Palladas' Epigrammsammlung motivische und thematische 'Blöcke' und 'Sequenzen' im Stile hellenistischer Sammlungen aufweist, während Ginevra Vezzosi Ähnliches für Epigramme philosophischen und gnomischen Inhalts postuliert ("Palladas' Philosophical and Gnomic Epigrams and the Yale Papyrus Codex", 42-53). Beide Beiträge verdeutlichen somit, wie Palladas' Epigramme mit- und untereinander korrespondieren und wie der Neue Palladas trotz aller Unvollständigkeit dieses Gesamtbild zumindest punktuell erweitern kann.

Die figurative Sprache und den Gebrauch mythischer Exempla im Neuen Palladas untersucht daraufhin William J. Henderson ("Imagery in the Yale Papyrus Codex: A Semiotic Probe", 54-65). Besonders bei diesem Beitrag empfindet man die unvollständige Natur der überlieferten Fragmente sehr schmerzlich, da die Deutung einzelner Bilder und Anspielungen ohne den notwendigen Kontext stets auf wackligem Boden steht, so etwa bei der (attraktiven, aber kaum abschließend nachzuweisenden) Vermutung des Autors, dass eine Referenz auf Phaethon (33 W 16.14-19) mit einer Ansprache an den Hinterbliebenen eines Verstorbenen verknüpft gewesen und somit der Schmerz des Hinterbliebenen mit der Trauer der Heliaden um ihren Bruder in Analogie gesetzt gewesen sein könnte (63).

Auf die Behandlung eines linguistischen bzw. onomastischen Spezialproblems (Rodney Ast, "A Sarmatian Family of Mediocre Prytaneis", 66-73) folgt sodann eine abschließende Würdigung der literarischen Qualität und der intertextuellen Tiefenstruktur des Neuen Palladas durch die Mitherausgeberin Maria Kanellou, vorgenommen anhand der Studie ausgewählter Fragmente, an welchen sich Spuren nicht nur der griechischen, sondern auch der römischen Epigrammtradition (Martial und Juvenal) sowie auch Einflüsse der Alten Komödie festmachen lassen ("Suffering from Gout: Intermingling Greek and Latin Material in the Yale Papyrus Codex", 74-86). Dass ausgerechnet das Motiv der Gicht, einer alles andere als angenehmen Alterserscheinung, zur Illustration dieser intertextuellen Bezüge benutzt wird, ist ebenso unfreiwillig ironisch wie die ungewollte Doppelbödigkeit des oben genannten Beispiels von Phaethon, dessen vermutete konsolatorische Funktion für uns, die wir mit der Lückenhaftigkeit der erhaltenen Fragmente zurechtkommen müssen, ein schwacher Trost ist.


Anmerkungen:

[1] Erstausgabe: Guido Bastianini / Claudio Gallazzi / Colin Austin: Posidippo di Pella: Epigrammi (P.Mil.Vogl. VIII 309), Mailand 2001.

[2] Erstausgabe: Dirk Obbink: Two New Poems by Sappho, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 189 (2014), 32-49.

[3] Kevin W. Wilkinson: New Epigrams of Palladas: A Fragmentary Papyrus Codex (P.CtYBR inv. 4000), Durham NC 2012.

[4] Traditionell wird Palladas ins späte 4. Jahrhundert n. Chr. datiert, während die Rückdatierung ins frühe 4. Jahrhundert auf Kevin K. Wilkinson zurückgeht: Wilkinson (Anm. 3) 54-56; siehe auch id.: More Evidence for the Date of Palladas, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 2015 (196), 67-71. Eine ausführliche Diskussion des Problems bietet Luca Benelli: The Age of Palladas, in: Mnemosyne 69 (2016), 978-1007, der nicht nur die kanonische Datierung verteidigt, sondern auch die Zuschreibung der auf P.CtYBR inv. 4000 überlieferten Gedichtfragmente an Palladas bezweifelt.

Silvio Bär