Rezension über:

Beat von Scarpatetti: Bücherliebe und Weltverachtung. Die Bibliothek des Volkspredigers Heynlin von Stein und ihr Geheimnis, Basel: Schwabe 2022, 584 S., 62 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-7965-4469-9, EUR 86,00
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Rezension von:
Martina Wehrli-Johns
Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Martina Wehrli-Johns: Rezension von: Beat von Scarpatetti: Bücherliebe und Weltverachtung. Die Bibliothek des Volkspredigers Heynlin von Stein und ihr Geheimnis, Basel: Schwabe 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/38108.html


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Beat von Scarpatetti: Bücherliebe und Weltverachtung

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Mit 286 Bänden seiner persönlichen Bibliothek trat Johannes Heynlin von Stein im Jahr 1487 am Vortag des Festes des Hl. Hugo in die Kartause St. Margarethental in Basel ein, wo er auch 1496 verstarb. Seine Bücher verblieben nach der Reformation bis zum Ableben des letzten Kartäusers Thomas Kress von Thann (gestorben 1564) zunächst in der Kartause in Kleinbasel, bevor sie als geschlossener Bestand in die verschiedenen Orte der Universitätsbibliothek überführt wurden. Noch vor der in den 70er Jahren einsetzenden Katalogisierung des Bücherbestandes von Heynlin durch Max Burkhardt und Martin Steinmann, wurden vor allem die Predigten Heynlins durch die Doktorarbeit von Max Hossfeld und den Berner Historiker Hans von Greyerz Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. [1] Erst die im Jahre 1995 abgeschlossene Katalogisierung ermöglichte schliesslich auch eine inhaltliche Würdigung dieser einzigartigen Bibliothek als Ganzes durch den Autor des vorliegenden Bandes, der sich als versierter Kenner mittelalterlicher Handschriften über mehrere Jahre hinweg dieser Aufgabe gewidmet hat.

Beat von Scarpetetti beginnt mit einer ausführlichen Einleitung zur Person Heynlins, seines beruflichen Werdegangs und seines von Vermutungen begleiteten familiären Umfeldes als illegitimer Spross der Familie der Markgrafen von Baden. Nun musste eine illegitime Geburt im 15. Jahrhundert keineswegs ein Hindernis für eine spätere Karriere als Wissenschaftler oder Staatsdiener am Hof oder in der Kirche bedeuten, wie das Beispiel von Johannes Nauclerus (auch bekannt unter seinem bürgerlichen Namen Ludwig Vergenhans), des Mitgründers und späteren Rektors der Universität Tübingen zeigt. Aber sie mochte für die Betroffenen ein Antrieb zu besonderen Leistungen gewesen sein. Im Fall von Heynlin darf man davon ausgehen, dass sein Studium an den Universitäten Erfurt (nicht sicher), Leipzig und Löwen wie später auch an der Sorbonne in Paris offenbar aus den Mitteln des Hauses Baden gefördert und finanziert wurde. [2] Mit einer kurzen Unterbrechung an der neugegründeten Universität Basel (1464-67) absolvierte Heynlin das ganze Artes-Studium wie alle Stufen des Theologiestudiums bis zum Doktorat (1472) an der Sorbonne in Paris. Dort amtete er auch als Bibliothekar und Prior. Zuletzt wurde Heynlin zum Rektor der Universität Paris gewählt.

Mit dem Aufbau seiner umfangreichen Bibliothek begann Heynlin schon während seines Studiums in Paris. Anhand einiger Beispiele weist der Herausgeber zu Recht auf die besonderen Qualitäten der von Heynlin gestalteten Codices hin, erkennbar an der von ihm entwickelten Buchschrift, die Scarpatetti als eine eigene "Litera semicursiva" bezeichnet. Daneben beschäftigte Heynlin auch professionelle Schreiber und beschränkte sich nur auf die Glossierung der Werke. Ab 1470 hatte er dank seiner Kontakte zu den Druckern am Oberrhein zusammen mit seinem Freund und Kollegen an der Sorbonne, Guillaume Fichet, auch die Druckerei in Paris eingeführt. Zurück in Basel vertiefte er seine Beziehungen zu Johannes Ammerbach und anderen Basler Druckern. So besteht seine Bibliothek bei seinem Tod zu einem Grossteil aus Inkunabeln, die Heynlin zu einem grossen Teil persönlich illuminiert, kommentiert oder glossiert hatte.

Scarpatettis Ziel war die Erstellung eines sog. Catalogue raisonné, d.h. eines Bücherkataloges, der Rechenschaft ablegt über die Gründe ihres Erwerbs und den Leser teil haben lässt an den inhaltlichen Auseinandersetzungen der gebotenen Recherchen zu Autoren und Werken. Inhaltlich folgt der Katalog dem Katalogsystem der Universitätsbibliothek Basel. Zusätzlich bietet er aber wesentlich mehr, insofern er auch zu jedem Werk Kurzbiographien des jeweiligen Autors und zusätzlich Hinweise auf damit zusammenhängende Diskurse beifügt. Besondere Einblicke in den Lehrbetrieb an der Sorbonne vermittelt das Repertorium der Glossen Heynlins, die Scarpatetti in der Mehrzahl transkribiert und übersetzt hat. Inhaltlich enthält die Bibliothek Heynlins neben den Klassikern der Philosophie und der Theologie auch eine ganze Reihe unbekannter Werke, die der Herausgeber in mühseliger Kleinarbeit erst identifizieren musste.

Seit Abschluss des Studiums kamen vermehrt auch Predigtwerke in die Bibliothek Heynlins, sowohl Handschriften als auch Drucke. Sie geben Zeugnis von der zunehmenden Bedeutung Heynlins als Kanzelprediger, sowohl im Münster der Stadt Basel, wie auch zeitweilig in der Stadt Bern. 1478/79 wirkte er auf Berufung des Grafen Eberhard im Bart mit bei der Gründung der Universität Tübingen. Die Predigten aus dieser Zeit haben sich erhalten. Danach folgte er dem Ruf des Markgrafen Christoph I. an das neugeschaffene Kollegiatsstift Baden, von wo er auch auf Einladung der Äbtissin Margaretha von Baden, einer Tochter Karls I. von Baden, Predigten im Zisterzienserinnenkloster Lichtenthal hielt. Heynlin, der unbekannte Spross aus dem Hause Baden, der sich in Paris den lateinischen Namen Johannes de Lapide zugelegt hatte, hatte es dank Bildung, Intelligenz und Fleiss weitergebracht als seine Verwandten in der Heimat, wie er einmal festhält. Seine wunderbare Bibliothek aber hinterliess er lieber der Basler Kartause St. Margarethental.

Der reich illustrierte Band erfreut den heutigen Leser und die Leserin wegen seiner bibliophilen Ausstattung ebenso wie durch seine gründliche Auseinandersetzung mit zentralen Themen spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Ein ausführlicher Index der Autoren und Werke erleichtert den Zugriff auf die Fülle der behandelten Themen.


Anmerkungen:

[1] Max Hossfeld: Johannes Heynlin aus Stein. Ein Kapitel aus der Frühzeit des deutschen Humanismus, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 6 (1907), 309-354; 7 (1908), 79-219, 235-431. Hans von Greyerz: Ablasspredigten des Johannes Heynlin aus Stein (de Lapide). 28. September bis 8. Oktober in Bern, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 32 (1934), 113-171. Der von Greyerz herangezogene Band der Ablasspredigten Heynlins (Basel, Universitätsbibliothek, Handschrift A VII 10) wurde 2020 digitalisiert.

[2] Siehe Hossfeld, 1907, 341. Dafür spricht seine Erwähnung in einem Einnahme-Verzeichnis der Universität Paris aus dem Jahr 1463, das offenbar in der Bibliothek des Klosters Lichtenthal aufbewahrt worden war. Vgl. Felix Heinzer: Die Handschriften von Lichtenthal, beschrieben von Felix Heinzer und Gerhard Stamm, Wiesbaden 1987. Badische Landesbibliothek Karlsruhe. Mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts, 36.

Martina Wehrli-Johns