Rezension über:

Bruce W. Longenecker / David E. Wilhite (eds.): The Cambridge History of Ancient Christianity, Cambridge: Cambridge University Press 2023, XV + 698 S., ISBN 978-1-108-42739-5, GBP 140,00
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Rezension von:
Jens Schröter
Theologische Fakultät, Humboldt Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Jens Schröter: Rezension von: Bruce W. Longenecker / David E. Wilhite (eds.): The Cambridge History of Ancient Christianity, Cambridge: Cambridge University Press 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/38908.html


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Bruce W. Longenecker / David E. Wilhite (eds.): The Cambridge History of Ancient Christianity

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Die Entstehung des Christentums ist ein spannendes Feld der aktuellen Forschung. Lange Zeit gängige Kategorien wie Orthodoxie und Häresie, kanonische und apokryphe Schriften, Doketismus und Gnosis werden dabei nachhaltig infrage gestellt. Das Christentum des 1. bis 3. Jahrhunderts erscheint stattdessen als eine Phase des Experimentierens sowie erster Versuche, christlichen Glauben zu denken und zu leben.

Der von den an der Baylor University in Waco (Texas) lehrenden Forschern herausgegebene Band gehört in diesen Kontext. Die Überschriften seiner sechs Teile beginnen stets mit "Contested" und bringen so zum Ausdruck, dass die Anfänge des Christentums in vielerlei Hinsicht umstritten waren. Die Teile enthalten jeweils vier bis fünf Beiträge zu folgenden Themen: Contexts, Figures, Heritage, Cultures, Beliefs, Bodies. Alle Artikel sind mit Bibliographien versehen; der Band wird insgesamt durch ausführliche Register zu Stellen und modernen Autoren erschlossen.

Am Beginn stehen zwei Beiträge von Wilhite, die das Thema in einen weiten Kontext stellen. Der erste, "The History of Ancient Christian History", gibt einen allgemeinen Überblick über Quellen zur Geschichte des Christentums von ersten Sammlungen von Worten Jesu bis hin zu modernen Datenbanken. Der zweite, "The Present and Future of Ancient Christian History", befasst sich damit, was "Christentum" und "christliche Geschichtsschreibung" sei. Ausgehend von Harnacks Vorlesungen über "Das Wesen des Christentums" soll gezeigt werden, dass konfessionell oder dogmatisch voreingenommene Zugänge zur Geschichte des Christentums überholt seien und es heute möglich sei, "to study the early Christians in historically sound ways" (43). Als forschungsgeschichtliche und methodische Grundlegung des Bandes ist das etwas unbefriedigend. Die beiden anderen Artikel dieses Teils stammen von Richard Flower ("Depicting the Other in Early Christian Polemic") bzw. Éric Rebillard ("Why did People become Christians in the Pre-Constantine World?"). Im ersten wird anhand des Begriffs hairesis dargestellt, wie in der Frühzeit des Christentums (Justin, Tertullian) die jeweils abgelehnten Sichtweisen bzw. Gruppen als illegitim erwiesen werden sollten. Der zweite ist eine Dekonstruktion der im Titel gestellten Frage. In den ersten Jahrhunderten könne nicht von "dem Christentum" gesprochen werden, es müsse sogar gefragt werden, ob unter "Christus" immer dieselbe Gottheit verstanden wurde (96). Statt Kriminalisierung und Verfolgung der Christen durch die römische Administration in den Vordergrund zu stellen, sei nach sozialen Formationen der frühen Phase der Christentumsgeschichte zu fragen. Dadurch würde auch die Grenze zwischen vorkonstantinischer und konstantinischer Zeit an Bedeutung verlieren. Der Beitrag wirft etliche Fragen auf, z.B., warum "Christen" überhaupt verfolgt wurden, wenn es sich um ganz unterschiedliche religiöse Gruppen innerhalb des Spektrums griechischer-römischer Vereine handelte.

Teil II, "Contested Figures", beginnt mit zwei Beiträgen zum "Remembered Jesus". Der erste (Benjamin Lee Sutton and Anthony Le Donne) fragt auf der Basis des social memory approach danach, wie die Person Jesu im ältesten Christentum erinnert wurde. Der Beitrag verbleibt auf einer hermeneutischen Ebene, inhaltliche Ausführungen zur Rezeption des Wirkens Jesu finden sich nicht. Andrew Gregory ("Remembering Jesus in the Second and Third Centuries CE") blickt auf Rezeptionen der Person Jesu im 2. und 3. Jahrhundert. Relevant seien Deutungen auf der Basis frühchristlicher Glaubensaussagen (der "Glaubensregel"), biographische Deutungen (Erzählungen um Geburt und Kindheit sowie Tod) sowie sein Wirken als Lehrer und Wundertäter. Entscheidend sei nicht die historische Verifizierbarkeit, sondern die Deutung von Person und Wirken Jesu im Horizont des entstehenden christlichen Glaubens. Die Beiträge zu "Paul and His Diverse Champions" (Benjamin L. White) und "Peter and His Diverse Champions" (Tobias Nicklas) beleuchten in kundiger Weise Diskurse über die beiden zentralen Figuren in Texten des entstehenden Christentums. Dabei werden verschiedene Rezeptionslinien sowie die Umstrittenheit ihres Erbes deutlich.

Die Beiträge des III. Teils, "Contested Heritage", vermitteln Einblicke in Wege, die im 2. und 3. Jahrhundert bei der Interpretation der christlichen Botschaft eingeschlagen wurden. Christine Shepardson und Paula Fredriksen ("Jews and Christians in Pagan Antiquity") zeigen, wie sich durch pagane christliche Autoren des 2. Jahrhunderts (Ignatius, Valentin, Markion, Justin) die Sicht auf die jüdischen Schriften und Traditionen veränderte. Judith M. Lieu ("The Marcionite Option") und Pheme Perkins ("The Gnostic Options") befassen sich mit alternativen Wegen, Gott, Jesus Christus und die Erlösung der Menschen zu denken. Bei Markion wird dabei auch seine Arbeit an jüdischen und frühchristlichen Schriften im Kontext der Diskussion über deren Status und Bedeutung im Christentum des 2. Jahrhunderts beleuchtet. Beide Beiträge geben wichtige Einblicke in die gegenwärtige Diskussion über die Rolle Markions und der "gnostischen" Gruppen für das entstehende Christentum. Josef Lössl gibt einen instruktiven Überblick über das entstehende Christentum als Bildungsreligion, die sich entgegen paganen Vorurteilen sehr bald im Kontext griechisch-römischer Philosophie und Religiosität etablierte. Peter W. Martens widmet sich der Bedeutung der Bibel im entstehenden Christentum. Im Kontext anderer Quellen (Inschriften, Sarkophage etc.) spielt die Interpretation der jüdischen Schriften durch die antiken christlichen Autoren und die Sammlung frühchristlicher Texte als "Neues Testament" eine wichtige Rolle.

Teil IV, "Contested Cultures", leuchtet die historischen Kontexte der frühen Christen aus. James R. Harrison befasst sich mit den sozio-ökonomischen Verhältnissen, in denen sich die frühen Christen etablierten. Er wirft dabei einen erhellenden Blick auf soziale Strukturen, die sich in neutestamentlichen Schriften erkennen lassen und eine schematische Zuweisung der frühen Christen zu einer bildungsfernen "Unterschicht" infrage stellen. Adam Winn reflektiert die Diskussion über (angebliche oder tatsächliche) Kritik der römischen Herrschaft im Neuen Testament. Er stellt die Gefahr heraus, moderne Interessen in antike Texte hineinzulesen, betont aber zugleich, dass die Interpretation der biblischen Texte als Reaktion auf ihre politischen Kontexte ein legitimes Unterfangen sei. David L. Eastman gibt einen Überblick über neuere Forschungen zu Rhetorik und Intention frühchristlicher Martyriumsliteratur; Eric C. Smith fragt nach den frühesten Zeugnissen materialer christlicher Kultur, die sich allerdings für die Frühzeit nur indirekt den Texten entnehmen lassen. Tommy Wasserman gibt einen kenntnisreichen Einblick in die aktuelle Diskussion über Datierung und Charakter frühchristlicher Manuskripte und die Entstehung des Neuen Testaments. Die Frühdatierung mancher Papyri ins 2. oder 3. Jahrhundert erweist sich dabei in der neueren Diskussion als fragwürdig.

Teil V, "Contested Beliefs", ist den Themen "Creator and Creation" (Paul M. Blowers); "The Trinity in the Making" (Jennifer Strawbridge); "Resurrection, Transformation and Deification" (M. David Litwa); "The Eucharist in the First Three Centuries" (Daniel Cardó) sowie "Office, and Appointment to Office, in Early Christian Circles" (Alistair C. Stewart) gewidmet. Es geht in diesem Teil weniger um "umstrittene" Vorstellungen als vielmehr um Entwicklungen der frühchristlichen Theologie und Gemeindeorganisation. Die Interpretation des Christusglaubens im Horizont der antiken Philosophie tritt dabei als markanter Bereich der Diskussionen, in denen sich das frühe Christentum bewegte, hervor.

Der letzte Teil heißt "Contested Bodies". Susan E. Hylen beleuchtet Perspektiven auf Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität in frühchristlichen Schriften. Die Kontrolle über den eigenen Körper und die Sexualität, die auch in nicht-christlichen Schriften begegnet, werde in christlicher Perspektive besonders betont. Ilaria L.E. Ramelli untersucht "Christian Slavery in Theology and Practice"; Helen Rhee widmet sich "Wealth, Almsgiving, and Poverty"; Robin M. Jensen blickt auf "Power, Authority, the Living, and the Dead" (mit einem Blick auf frühchristliche Gräber und Katakombenmalereien). Die Beiträge weiten den Blick auf die sozialen Kontexte des frühen Christentums, ohne allerdings grundlegend Neues zu bieten.

Der Band präsentiert eine Vielfalt methodischer und inhaltlicher Zugänge zum frühen Christentum. Darin entspricht er der gegenwärtigen Forschungslage, die durch eine solche Multiperspektivität gekennzeichnet ist. Viele Beiträge sind von ausgewiesenen Expertinnen und Experten verfasst und vermitteln gut informierte Überblicke über aktuelle Diskurse zum entstehenden Christentum. Ein hermeneutisches und methodisches Paradigma, wie eine Geschichte des entstehenden Christentums zu konzipieren sei, findet sich nicht. Es wäre wünschenswert gewesen, dass die Herausgeber das Profil des Bandes durch eine Erläuterung, was unter "Ancient Christianity" verstanden werden soll und wie dies in die gegenwärtige Forschungslage einzuzeichnen ist, geschärft hätten. Mitunter hätten Verbindungen zwischen den Beiträgen (etwa zu Markion, zur Gnosis, zu Schöpfung und Schöpfer, zur antiken Bildung sowie zur Trinität oder zu Schriftinterpretation und frühchristlicher Textüberlieferung) deutlicher herausgestellt werden können. Durch die Einteilung in die sechs genannten Teile bleiben solche Bezüge dagegen oft im Hintergrund. Gleichwohl bietet der Band ein weites Spektrum qualitätsvoller, oft auch innovativer und anregender Perspektiven auf das entstehende Christentum.

Jens Schröter