Rezension über:

Dagmar Herzog: Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen. Aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2393), Berlin: Suhrkamp 2023, 383 S., ISBN 978-3-518-29993-7, EUR 28,00
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Rezension von:
Jens Elberfeld
Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
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Empfohlene Zitierweise:
Jens Elberfeld: Rezension von: Dagmar Herzog: Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen. Aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl, Berlin: Suhrkamp 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/38993.html


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Dagmar Herzog: Cold War Freud

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Rückblickend erscheint das 20. Jahrhundert nicht nur als Epoche der großen Ideologien, sondern ebenso der großen Theorien. Zu jenen Pyramiden des Geistes zählt zweifelsohne die Psychoanalyse. Mindestens so oft für tot erklärt worden wie Punk, ist aber auch Freud noch alive and kicking. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls Dagmar Herzog, Professorin für Geschichte an der City University New York, im vorliegenden Buch. Herzog, die sich mit ihrer bahnbrechenden Studie "Sex after Fascism" [1] einen Namen als Sexualitätshistorikerin gemacht hat, widmet sich der Geschichte der Psychoanalyse von den 1930er bis in die 1980er Jahre. In Abgrenzung zu einer älteren Historiographie, welche die Entwicklung der Psychoanalyse vornehmlich aus internen Faktoren heraus zu erklären sucht, wählt Herzog einen kulturgeschichtlichen Zugang, der transnationale Verflechtungen und den Transfer von Konzepten berücksichtigt. Damit verknüpft sind zwei Anliegen: Erstens wirbt sie dafür, die Geschichte der Psychoanalyse in Beziehung zum Wandel der Gesellschaft zu setzen. Zweitens liegt ein gesondertes Augenmerk auf der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Politik. Dem geht Herzog in sechs Kapiteln nach, die größtenteils aus bereits publizierten Aufsätzen hervorgegangen sind.

Im ersten Kapitel betrachtet Herzog Debatten um den Stellenwert der Sexualität, die in den USA zwischen Ende der 1930er und Anfang der 1950er Jahre erbittert geführt wurden. Sie betont diesbezüglich den Kontext der Nachkriegszeit und des beginnenden Kalten Kriegs, in dem konservative Werte eine Renaissance erlebten. Die Abkehr von der Libido-Theorie will sie deshalb auch nicht auf den Einfluss des Neo-Freudianismus um die deutsch-amerikanische Analytikerin Karen Horney zurückführen. Vielmehr erkennt sie darin eine folgenschwere Anpassung an die US-Gesellschaft. Erst die Absage an jeglichen - sexuellen wie auch politischen - Radikalismus habe den Aufstieg der Ich-Psychologie und den Anbruch des goldenen Zeitalters der Psychoanalyse in den 1950er Jahren ermöglicht. Im Unterschied zur Forschung vertritt Herzog die These, es habe es sich dabei nicht nur um eine Entpolitisierung und Entsexualisierung Freuds gehandelt, sondern obendrein um dessen Christianisierung. Im zweiten Kapitel geht Herzog dem Sexualkonservatismus anhand der fest in der Nachkriegs-Analyse verankerten Homophobie nach. So habe man auf die sogenannte sexuelle Revolution und die Herausforderung durch schwul-lesbische Emanzipationsbewegungen keineswegs mit einer Revision des eigenen Standpunkts reagiert. Stattdessen habe man einen Paradigmenwechsel "von Ödipus zu Narziss" (93) ausgerufen, was Herzog wie folgt beurteilt: "Anstatt die Homophobie loszulassen, wurden ihr Inhalt und ihre theoretische Artikulation aktualisiert". (94) Mithin sei es kein Zufall, dass der Niedergang der Psychoanalyse parallel zum Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität erfolgte.

Die Kapitel drei und vier widmen sich unterschiedlichen "Erbschaften des Nationalsozialismus". (111) Zum einen hebt Herzog die Bedeutung der Shoah für die Entstehung des Konzepts der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) hervor. Bislang sei dessen Geschichte vor allem mit Blick auf den Vietnam-Krieg erzählt worden. Demgegenüber zeichnet Herzog nach, wie sich die Bemühungen von US-Veteranen mit Forderungen jüdischer NS-Opfer auf finanzielle Entschädigung für ihre seelischen Versehrungen verbanden - wobei die Psychoanalyse sowohl auf Seiten der Gegner als auch der Befürworter von Entschädigungen herangezogen wurde. Vor diesem Hintergrund kam es 1980 zum grundlegenden Wandel der psychiatrischen Sichtweise, als mit der dritten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders das Konzept der PTBS eingeführt wurde, wobei Herzog leider nur kurz auf die Bedeutung der Diktaturerfahrungen in Südamerika und den Kontext der Dekolonisation für den Trauma-Diskurs eingeht.

Zum anderen, nun mit Fokus auf die Bundesrepublik, erörtert Herzog die öffentlich breit rezipierte Kontroverse um das Wesen der menschlichen Aggression in den 1960er und 1970er Jahren. Hauptprotagonisten und Antipoden waren hier der Verhaltensforscher Konrad Lorenz und der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Herzog weist überzeugend nach, dass man diese Debatte im Zusammenhang mit der vorgeblichen Vergangenheitsbewältigung sehen muss. Aggression zur anthropologischen Konstante zu erklären, entlastete die Deutschen von einer spezifischen Schuld. Zugleich habe die prominente Rolle der Psychoanalyse in den vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen ihre Rückkehr in das "postnazistische Deutschland" befördert (154).

Die vielleicht spannendsten Beiträge finden sich im Schlussteil. Kapitel fünf, mit dem sprechenden Titel "Ödipus in die Luft jagen", bietet eine unorthodoxe Lesart des 1972 erschienenen "Anti-Ödipus" von Gilles Deleuze und Felix Guattari. [2] Herzog versteht das ebenso berühmte wie berüchtigte Werk nicht als blasphemischen Angriff auf Freud. Im Gegenteil interpretiert sie es als psychoanalytischen Text, bei dem in kritischer Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich, Melanie Klein und Jacques Lacan der Versuch unternommen wird, ausgehend von den Erfahrungen des Pariser Mai 1968 die Beziehung zwischen Psyche und Politik radikal neu zu denken. Überdies konstatiert sie auf den oft unterschlagenen Einfluss Guattaris und situiert ihn in den zeitgenössischen Debatten um die Anti-Psychiatrie, der er skeptisch begegnete. Einen weiteren Diskursstrang, den Herzog aber nicht weiterverfolgt, stellte die anfänglich psychoanalytisch geprägte Familientherapie dar, deren Resonanzen man auch im "Anti-Ödipus" vernehmen kann. Kapitel sechs untersucht das Phänomen der "Ethnopsychoanalyse in Zeiten der Dekolonisierung". Herzogs Interesse gilt weniger ihrem Begründer George Devereux als vielmehr Fritz Morgenthaler, Paul Parin und Goldy Parin-Mathèy. Das Schweizer Trio bewegte sich an der Schnittstelle von Analyse und Anthropologie, klinischer Praxis und Theorie und unternahm seit den 1950er Jahren zahlreiche Forschungsreisen nach Afrika. In einem eklektischen Mix aus Gesprächstherapie und teilnehmender Beobachtung gingen sie der seit Bronislaw Malinowski vieldiskutierten Frage nach, wie universell Konzepte wie das des Ödipus sind. Zugleich setzten sie sich für eine politisch engagierte Psychoanalyse ein, was zu ihrer späteren Popularität im linksalternativen Milieu beitrug. Letzteres dürfte ferner dem dort grassierenden Exotismus geschuldet gewesen sein, weshalb in zeitweiligen Kultbüchern wie "Die Weißen denken zuviel" [3] ein gesellschaftlicher Gegenentwurf zum kapitalistischen Westen erblickt wurde, was Herzog allerdings nicht weiter problematisiert.

Dagmar Herzog hat eine äußerst kenntnisreiche, gut zu lesende Studie zur nach-freudianischen Psychoanalyse vorgelegt, in der sie mit Verve gegen etablierte Narrative anschreibt. Dabei liefert sie nicht nur den Nachweis, dass sich dem viel beforschten Gegenstand noch immer spannende Erkenntnisse abringen lassen. Sie zeigt auch, wie sich aus der Beschäftigung mit der Geschichte dieses wirkmächtigen Denkkollektivs neue Perspektiven auf Prozesse und Akteure gesellschaftlichen Wandels gewinnen lassen. Problematisch erscheint die gar nicht erst versteckte Agenda, für die bleibende Relevanz Freuds zu streiten. Daraus resultiert ein normativer bias, bei dem sich die historische Analyse mit kaum hinterfragten Annahmen über gute und schlechte Psychoanalyse, emanzipatorische und reaktionäre Politik überschneidet. Nur folgerichtig wird denn auch die wachsende Forschung zur Therapeutisierung nicht zur Kenntnis genommen, würde sie das vorgefasste Bild doch trüben.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006.

[2] Vgl. Gilles Deleuzes / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I., Frankfurt am Main 1974.

[3] Vgl. Paul Parin / Fritz Morgenthaler / Goldy Parin-Matthèy: Die Weißen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika, Zürich 1963. Das Buch erlebte mehrere Neuauflagen.

Jens Elberfeld