Moritz Lauterbach-von Ostrowski: Sprachliches Handeln als Zugang zur Erinnerung. Schülerführungen in KZ‐Gedenkstätten (= Sprach-Vermittlungen; Bd. 23), Münster: Waxmann 2023, 371 S., ISBN 978-3-8309-4556-7, EUR 39,90
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Gedenkstätten an Orten nationalsozialistischer Verbrechen kommt eine gesellschaftlich unbestreitbar wichtige Aufgabe des Erinnerns und Gedenkens zu. Zugleich haben sie einen historisch-politischen Bildungsauftrag. Gedenkstätten verstehen sich deshalb heute als interaktive Lern- und Diskursorte, in deren Kontext Führungen eine ambivalente Rolle einnehmen: Während sie einerseits als instruktive und eben wenig diskursive Formate der Vermittlung kritisiert werden, stellen sie andererseits auch für Schulgruppen das "zahlenmäßig bedeutsamste pädagogische Angebot" [1] dar.
In seiner Dissertationsschrift setzt sich Moritz Lautenbach-von Ostrowski aus funktional-linguistischer Perspektive mit Führungen als Kommunikationsformate gedenkstättenpädagogischer Angebote auseinander. Anhand diskursanalytischer, qualitativ-hermeneutischer Zugänge untersucht er Sprachhandlungen von Guides im Rahmen von insgesamt sechs Führungen für Schüler:innen in den Gedenkstätten Ravensbrück, Bergen-Belsen und Neuengamme aus den Jahren 2008-2015 und fragt explorativ danach, wie die "Aktanten bei Führungen an historischen Tatorten nationalsozialistischer Verbrechen gesellschaftliche Erinnerungen kooperativ sprachlich" verhandeln und teilen (14). Führungen werden dabei als Lehr-Lern-Diskurse verstanden, denen die grundlegende Funktion zukomme, "den Hörern die Historie zu vergegenwärtigen" und dadurch die "wissensmäßige Distanz" (41) zum historischen Ort zu überwinden. Die sprachlichen und mentalen Handlungen, die die Guides zur Überwindung dieser Distanz vollziehen, werden hier als "Zugänge zur Erinnerung" (ebd.) betrachtet. Dabei werden den Guides zwei zentrale Vermittlungsrollen zugeschrieben: Zum einen die Aufgabe der Wissensvermittlung, verbunden mit den Fragen, wie sie Wissen zur Gedenkstätte für die spezifische Zielgruppe vermitteln, strukturieren und Vorstellungen aufbauen. Zum anderen die Vermittlung von Zeugenschaft, gekoppelt an das Erkenntnisinteresse, in welchen sprachlichen und mentalen Handlungen Zeitzeugenwissen erhalten wird (13).
An diesen (Teil-)Fragen im Kontext zentraler Begriffe wie sprachliches Handeln, Erinnerung, Gedenkstätten, Zeugenschaft und Vermittlung wird bereits der komplexe Theorie- und Untersuchungsrahmen deutlich, in dem sich die Studie - notwendigerweise interdisziplinär - verorten muss. Dabei bildet die Funktionale Pragmatik die theoretische und methodische Basis der Studie und orientiert sich wesentlich an den Arbeiten der Linguist:innen Konrad Ehlich, Jochen Rehbein und Angelika Redder. Ausgehend von dieser linguistischen Rahmentheorie werden zur theoretischen Anknüpfung von Begriffen und Konzepten (Kapitel I) sowie zur Einordnung der Ergebnisse (Kapitel II und III) punktuell interdisziplinäre Bezüge zur Gedenkstättenpädagogik, Geschichtsdidaktik, -wissenschaft und kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien hergestellt.
Kapitel I legt unter Bezugnahme auf die Funktionale Pragmatik dar, in welchen Kategorien und Aspekten sprachliches Handeln betrachtet und als Zugang zur Erinnerung analysiert wird. So interessieren den Verfasser zum Beispiel das gestische und sprachliche Zeigen am Ort, der Gebrauch von Metaphern, Vergleichen und Analogien sowie die Wiedergabe von Zeitzeugenaussagen - Sprachhandlungen, die funktional mit dem Aufbau von Vorstellungen, Veranschaulichung, Vergegenwärtigung und Überlieferung von Erfahrungen verbunden werden (42). Die zum Teil fragmentarischen interdisziplinären Bezüge (etwa die sehr knappen Anknüpfungen an den geschichtstheoretischen und -didaktischen Erzählbegriff) dienen dabei weniger der Bildung eines interdisziplinären Theoriefundaments. Vielmehr geht es dem Verfasser darum, die "sprachlichen Zugänge zur Erinnerung [...] als Form-Funktions-Zusammenhänge" (47) einzuordnen.
Kapitel II bildet das empirische Kernstück der Arbeit: Hier erfolgen die Diskursanalysen zu den insgesamt zwölfstündigen transkribierten Führungen. Die Darstellung strukturiert sich nach den drei Gedenkstätten, sodass sprachliche Charakteristika in Bezug auf die konkrete Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit an den je spezifischen Orten des Gedenkens herausgearbeitet werden. Wenngleich vereinzelt auch Redebeiträge der Lernenden beachtet werden, liegt der Fokus auf den Guides. Dabei beschreibt der Verfasser linguistisch detailliert und von der Makro- bis zur Mikroebene sprachlichen Handelns wie diese in ihren mündlichen Äußerungen konkret Vorstellungen und "Bildwissen" zum historischen Ort aufbauen, wie sie Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen und wie sie in direkten Redewiedergaben von Zeitzeugenaussagen selbst zu vermeintlichen historischen Zeug:innen werden. Erkenntnisinteresse und Darstellung bleiben zuvorderst linguistisch, werden aber durch vielfältige Ankerbeispiele gestützt. Zugang und Befunde können für die Geschichtsdidaktik, insbesondere hinsichtlich mündlicher Vermittlungs- und Diskursprozesse, heuristische und analytische Anregungen bieten, weil über die linguistische Perspektive bekannte Konzepte und Theoriebegriffe empirisch rekonstruiert und beschrieben werden. So differenziert der Verfasser in den mündlichen Sprachhandlungen verschiedene Teilhandlungen der Guides (wie das Erzählen, Schildern, Vergleichen, Beschreiben) oder rekonstruiert Konzepte wie Perspektivität und Zeit in ihrer Funktion für die Vermittlungsarbeit. Ebenso zeigt und reflektiert der Verfasser, wie über die Sprache Verallgemeinerungen von Wissen, Deutungen und Urteilen vorgenommen werden oder wie kognitive versus affektiv-emotionale (oder gar emotional überwältigende) Vermittlungsabsichten ineinandergreifen. Neben diesen Potenzialen wären manche Befunde aus geschichtsdidaktischer Perspektive sicherlich differenzierter einzuordnen. Übergeordnet wäre etwa eine empirisch basierte Diskussion des Vermittlungsbegriffs wünschenswert. [2] Im Detail diskussionswürdig ist auch der fehlende quellenkritische Umgang eines Guides mit dem Zitat einer Zeitzeugin, was der Verfasser vor dem Hintergrund kommunikativer Zwecke in der Führung als eher positiv einordnet (117f.). Hier zeigen sich Grenzen der Interdisziplinarität, wenngleich anzuerkennen ist, dass der Verfasser dies durchaus reflektiert. Kapitel III schließt mit einer Pointierung und Diskussion der Ergebnisse. Hier wird auch die Rolle "Guide" noch einmal kritisch beleuchtet und auf das grundsätzliche "diskursive und epistemische Potenzial" (340) von Führungen verwiesen.
In der diskutierten Studie gelingt es dem Verfasser, Führungen in KZ-Gedenkstätten als linguistischen Analysegegenstand explorativ zu erschließen und interdisziplinäre Perspektiven für die Einordnung der Ergebnisse zu eröffnen. Die interdisziplinären Bezüge sind vom linguistischen Erkenntnisinteresse aus funktional und stringent dargelegt, mögen sich aus je disziplinspezifischer Sicht aber zum Teil als eher schlagwortartig oder auch zu wenig problematisierend erweisen. Wenngleich sich die Untersuchung so den Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens stellen muss, sind die Ergebnisse insgesamt ertragreich und können auch für die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit Führungen in KZ-Gedenkstätten eine relevante empirische Befundlage darstellen.
Anmerkungen:
[1] Verena Haug: Am "authentischen" Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik, Berlin 2015, 84.
[2] Holger Thünemann: Auschwitz unbekannt? Überlegungen und Thesen zum Umgang mit NS-Vergangenheit und Holocaust in Gedenkstätten, in: Geschichte für heute 2/2018, 26-34.
Viola Schrader