Frei Vicente do Salvador: Geschichte Brasiliens 1500-1627. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Franz Alto Bauer, Regensburg: Schnell & Steiner 2023, 400 S., zahlr. Farb-Abb., ISBN 978-3-7954-3884-5, EUR 50,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Philip Ford / Jan Bloemendal / Charles E. Fantazzi (eds.): Brill's Encyclopaedia of the Neo-Latin World. Micropaedia, Leiden / Boston: Brill 2014
Erika Zwierlein-Diehl: Magie der Steine. Die antiken Prunkkameen im Kunsthistorischen Museum, Wien: Christian Brandstätter Verlag 2008
Christoph Schingnitz (Hg.): Eneas Silvius Piccolomini, Pentalogus, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2009
Die 'História do Brazil' des Frey Vicente do Salvador (ca. 1567 - ca. 1636/39) ist die erste Geschichte Brasiliens. Sie wurde gegen 1626 begonnen (die Widmung an den potentiellen Förderer für den Druck Manuel Severim de Feria, Kantor von Évora und politischer Schriftsteller, datiert 20. Dezember 1627) und greift zeitlich bis auf die zufällige Entdeckung durch Pedro Álvares Cabral 1500 und die Etablierung der portugiesischen Herrschaft in Salvador seit 1549 zurück. Ihr Verfasser, in Brasilien zur Welt gekommen, gehörte zu jenem portugiesischen Kleinadel, der die Kolonisierung des schier endlosen Küstenlandes vorantrieb. Vicente Rodrigues Palha [1] - so sein Geburtsname, die Vatersfamilie stammte aus der Provinz Alentejo - war der zweitgeborene von fünf Töchtern und zwei Söhnen; er ging in Salvador, der 1549 gegründeten ersten Hauptstadt Brasiliens, auf die Schule der Jesuiten und studierte dort Artes und Theologie. Seine weitere Ausbildung war das Rechtsstudium in Coimbra, womit Vicente auf das höchste damals erreichbare Bildungsniveau kam. Zurück in Brasilien gehörte er zunächst als Generalvikar von Salvador zur Spitze der Kolonialverwaltung. 1599 gab er dieses Amt auf und trat dem die Mission tragenden Franziskanerorden bei, wurde Artes-Professor in Olinda (Pernambuco), seit 1612 Guardian in Salvador und bereits 1614 Kustodian für ganz Brasilien, dessen (nicht erhaltene) Ordensgeschichte er 1618 schrieb. Der größte Einschnitt in der Geschichte des portugiesischen Brasilien war damals das Erscheinen der Holländer, die 1624 Salvador kurzzeitig einnahmen und sich 1630 für 24 Jahre in Pernambuco festsetzten. In diese Krisenzeit fällt die Abfassung der 'História': Brasilien war von 1560 bis 1640 mit Spanien in Personalunion vereinigt, und die Holländer kämpften noch um das Ausscheiden aus dem spanischen Staatsverband.
Das Werk in fünf Büchern ist reichhaltig und berichtet über viele Aspekte. Nach einer Skizze der Entdeckung beschreibt der Autor die Landesnatur (Klima, Pflanzen- und Tierreich) detailliert und farbig, dann die Methode der Kolonisierung des Landes von Rio de Janeiro im Süden über Pernambuco, Paraíba, Maranhão bis Pará an der Amazonas-Mündung. Die gesamte 'História' ist durchzogen von Berichten über die Kämpfe mit den sich als sehr kriegerisch zeigenden Indigenen und über die ständige Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Franzosen, die vor allem das als Farbstoff begehrte Brasilholz wegschafften, und den Holländern, deren Eroberung von Salvador Gegenstand des letzten Buches ist. Deutlich wird, wie schwierig die Ansiedlung war und wie eng die Verflechtung mit den Indigenen: Einige der führenden Kolonisatoren haben indigene Frauen geheiratet, doch als 1549 die portugiesische Krone die Kolonisierung in eigene Hand nahm und die Stadt Salvador in der Baía de Todos-os-santos (Allerheiligenbucht) als Regierungszentrum aufbaute, schickte sie neben sechs Jesuiten nur "einige Verheiratete, 1.000 Soldaten und 400 Verurteilte". (120) Sklaven werden laufend erwähnt, versklavte Indigene wie auch Afrikaner (diese leider nicht im sonst brauchbaren Sachregister als Schwarze oder Afrikaner ausgeworfen). Der Autor sieht handelspolitische Vorzüge der Kolonie gegenüber dem Mutterland (dort "nichts außer Brot, Tuch und Ähnlichem, woran es anderenorts aber nicht mangelt", 121) und malt eine Prophezeiung an die Wand. Wenn nämlich der portugiesische König einmal aus seinem Land flüchten müsse, wäre keines besser zur Aufnahme geeignet als Brasilien - so geschehen 1807, als der gesamte Hof vor Napoleons Armeen übers Meer nach Rio de Janeiro floh.
Der Verfasser hat sein Werk mit literarischem Anspruch gestaltet, dies zeigt sich in den sorgfältig ausgeführten exemplarischen Erzählungen zu den Kämpfen mit Indigenen und Franzosen, zum Umgang mit Ketzern, zur geordneten Rechtspflege gegen Kriminelle, überhaupt in einer erzählerischen Auffassung. Dabei unterzieht der Franziskanerbruder das koloniale Geschäft durchaus einer moralischen Wertung und hat für die Rechtsferne und die nackte Gier der brutalen Ausplünderer der Ureinwohner und des Landes nichts übrig. Kurz: die 'História' ist eine überaus lesenswerte Quelle zur (Kolonial-) Geschichte.
Die 'História do Brazil' wurde erst im 19. Jahrhundert für die historische Forschung entdeckt. Zu Lebzeiten des Verfassers kam es nicht zur Drucklegung in Portugal, mutmaßlich aus politischen Gründen (so Oliveira). In den zeitgenössischen historischen Diskurs ging das Werk offenbar nur begrenzt ein und wurde von der franziskanischen Geschichtsschreibung selbst nicht benutzt. Erst der deutschstämmige Francisco Adolfo de Varnhagen, Visconde do Porto Seguro (1816-1878), mit seiner 'História geral do Brasil' (1854-57) Begründer quellenkritischer Geschichtsforschung im Kaiserreich Brasilien, entdeckte das Manuskript im Lissaboner Staatsarchiv, nutzte die Entdeckung 1839 jedoch eher beiläufig. Die lange maßgebliche, sprachlich modernisierte und heute am leichtesten zugängliche Ausgabe aus dem Jahr 1889 stammt vom brasilianischen Bibliothekar und Historiker João Capistrano de Abreu (1873-1927), digital abrufbar in der revidierten Ausgabe Brasília 2010 der Biblioteca do Senado Federal (https://livraria.senado.leg.br/historia-do-brasil-frei-vicente-do-salvador). Mit skrupulöser Ausführlichkeit hat 2008 Maria Lêda Oliveira alle Textzeugen und Editionen für ihre die alte Sprachgestalt wahrende Ausgabe beschrieben (der Übersetzer hat diese zu Grunde gelegt). Danach kann man sagen: Der ursprüngliche Text ist nicht erhalten, doch legt die Benutzung wenige Jahre nach der Fertigstellung nahe, dass er bald in verschiedenen Abschriften umlief. Davon liegen noch zwei bearbeitete und lückenhafte aus dem 17. Jahrhundert vor, beide in Lissabon, Arquivo Nacional da Torre do Tombo, Manuscritos do Brasil no. 49 und no. 24, letztere mit "Addiçoens e emmendas".
Der Übersetzer und Bearbeiter Franz Alto Bauer, Professor für Spätantike und Byzantinische Kunstgeschichte an der LMU München, hat den Text in ein flüssiges Deutsch übertragen, alles Nötige in einer knappen Einführung umsichtig zusammengefasst und die Quelle durch einen Stellenkommentar erklärt; es ist dies die erste Übersetzung ins Deutsche. [2] Dabei nahm er sich allerdings "die Freiheit, die Anordnung der Absätze gegenüber den erhaltenen Manuskripten abzuändern" (19), d.h. die Flüssigkeit der Erzählung ist auch sein Werk als Bearbeiter und die Übersetzung als eine pragmatische zu bewerten. Im Zuge dieses Verfahrens hat Bauer die anderwärts überlieferten, in der Basis-Handschrift 49 nicht vorhandenen Passagen in die Erzählung eingepasst, über die von ihm als maßgeblich genannten Ausgaben von Abreu und Oliveira hinaus. Bauers Bearbeitung hat zudem den Vorzug der besseren Darstellung von Buch und Kapitel, so dass sie leichter zu benutzen ist als die brasilianischen Ausgaben, in denen man sich nicht gut zurechtfindet.
Bei dem Versuch "politisch korrekt" (19) zu übersetzen, hat er - wie er vorausschickt - den Begriff "gentio" (=Heide) mit "Indio", "Stamm" oder "Ureinwohner" übersetzt und damit "politisch inkorrekt" danebengegriffen, denn "Indio" ist inzwischen im ethnologischen Diskurs verpönt. In der heute weitgehend säkularisierten, will sagen: heidnischen Gesellschaft hätte sich kaum jemand am "Heiden" gestört, überhaupt und im historischen Kontext erst recht nicht. Der Text ist hauptsächlich durch zeitgenössische Karten illustriert. Zur Klärung der geographischen Beschreibungen sind sie sehr wertvoll, zeigen diese Karten doch besser als moderne die weiten leeren Räume, in die sich die Kolonisatoren verloren hatten, und bezeugen den hohen Stand der Kartographie. Besondere Mühe hat der Bearbeiter auf die Register verwendet. Nach einer Liste der Herrscher und der hohen Verwaltungsbeamten der Kolonie Brasilien wird die "Geschichte Brasiliens" durch ein Glossar für Maße, Gewichte und Schiffstypen, Sach-, Personen- und geographisches Register erschlossen, Schiffsnamen und eineinhalb Dutzend Bibelstellen machen die Erschließung komplett. Dem Buch seien viele Leser und Nutzer beschieden.
Anmerkungen:
[1] Zur Biographie und zur weiteren Einordnung des Werkes vgl. Maria Lêda Oliveira: Friar Vicente do Salvador's Historia do Brazil. History and Politics in the 17th-Century Portuguese Empire. Translated by H. Sabrina Gledhill, Rio de Janeiro / São Paulo 2008. Dies ist die englische Fassung der portugiesischen Darstellung zur Edition: Frei Vicente do Salvador. Edição e introdução Maria Lêda Oliveira. A Historia do Brazil do Frei Vicente do Salvador. Historia e politica no imperio portugues do século XVII, Rio de Janeiro / São Paulo 2008. Oliveira interpretiert die 'História' im politischen Diskurs ihrer Zeit, als in der kulturellen Elite Portugals die Frage ventiliert wurde, wie das Reich mit seinem weitgestreuten problematischen Kolonialbesitz inmitten rivalisierender Mächte zu alter Stärke zurückfinden könne.
[2] Auf dem Buchmarkt ist auch eine englische Übersetzung verfügbar: Frei Vicente do Salvador: The History of Brazil, 1500-1627. Translated and edited by Timothy J. Coates. Foreword by Alida C. Metcalf, Dartmouth, MA o. J.
Markus Wesche