Rezension über:

Ulrike Enke: Emil von Behring 1854-1917. Immunologe - Unternehmer - Nobelpreisträger, Göttingen: Wallstein 2023, 597 S., ISBN 978-3-8353-5501-9, EUR 34,00
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Rezension von:
Julia Langenberg
Marburg/L.
Redaktionelle Betreuung:
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Julia Langenberg: Rezension von: Ulrike Enke: Emil von Behring 1854-1917. Immunologe - Unternehmer - Nobelpreisträger, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/39185.html


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Ulrike Enke: Emil von Behring 1854-1917

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Die renommierte Literaturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin Ulrike Enke hat eine ausgezeichnete Behring-Biografie vorgelegt, die einen völlig neuen Blick auf den berühmten Arzt und Wissenschaftler ermöglicht. Anders als ältere biografische Darstellungen, die Emil von Behring mit großer Verehrung beschrieben haben, bietet sie einen kritischen Einblick in alle Facetten seines wissenschaftlichen und privaten Lebens mit Höhen und Tiefen. Aufgrund neu bearbeiteter Quellen gelingt ihr sowohl eine "Montage von Fundstücken" (20) im Rahmen einer Erzählung als auch eine wissenschaftliche Biografie über sein Leben und Werk. Mit einem brillanten Einstieg nimmt Enke die Leser und Leserinnen schnell mit in Behrings Welt.

Emil von Behring wuchs in ärmlichen Verhältnissen im heutigen Polen auf und studierte an der preußischen Militärakademie in Berlin Medizin. Durch das erfolgreiche Serum gegen die bisher tödliche Infektionskrankheit Diphtherie wurde er international als "Retter der Kinder" berühmt und erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin. Im Ersten Weltkrieg wurde er nochmals aufgrund seines Tetanusserums als "Retter der Soldaten" bekannt. Mit der Gründung der Behringwerke in Marburg (1904) war er auch als Unternehmer erfolgreich.

Die erste - nationalsozialistisch gefärbte - Biografie von Heinz Zeiss und Richard Bieling stellte Behring überhöht als einen sogenannten großen Mann dar [1], danach erschienen ähnliche "Behring-Romane" (16). Auch der amerikanische Biograph Derek Linton, der keine Originalquellen benutzte, folgte dieser unkritischen Verehrung. [2] Mit der gründlichen Aufarbeitung des Marburger Behring-Nachlasses taten sich neue Perspektiven auf. Kornelia Grundmann, die das Behring-Archiv viele Jahre leitete, schrieb 2019 eine lesenswerte Biografie mit dem Schwerpunkt auf den Marburger Jahren. [3] Enke zeigt hingegen sein "Leben im Plural" (19): Behring als Arzt, Wissenschaftler und Unternehmer mit seinen beruflichen Netzwerken, als Privatmann sowie seine schwierige Persönlichkeit und erstmals seine Lebenskrisen und Krankheiten.

Nach zwei einleitenden Kapiteln zeichnet Enke seine Jugendjahre mit Schule und Studium, sein Familienleben und seinen sozialen Aufstieg sowie sein Leben in Marburg und auf Reisen nach. In sechs weiteren Kapiteln befasst sie sich ausführlich mit seinen Berufsjahren als Arzt und Forscher und der spannungsreichen Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Paul Ehrlich. Jeweils ein Kapitel gilt dem Nobelpreis, der Gründung der Behringwerke sowie seiner schweren Lebenskrise. Abschließend nimmt die Autorin seine beruflichen und privaten Wegbegleiter und sein Nachleben in den Blick.

Mit seiner viel jüngeren, lebensfrohen Ehefrau Else war Behring glücklich, wie aus neu bearbeiteten Briefen des Ehepaars und Else von Behrings an ihre Mutter hervorgeht. Sie stammte aus wohlhabenden gesellschaftlichen Kreisen in Berlin mit jüdischen Vorfahren. In Marburg engagierte sie sich im national ausgerichteten Vaterländischen Frauenverein. Während einer langen krankheitsbedingten Abwesenheit Behrings musste sie sich nicht nur überwiegend allein um die sechs Söhne kümmern, sondern manchmal auch um die Geschäfte der Behringwerke. Nach Behrings Tod wurde Else von Behring seine Nachlassverwalterin, daher konnten viele schriftliche Quellen Behrings und seiner Kollegen gesammelt und erhalten werden. Trotz des internationalen Ruhms Behrings benachteiligten die Nationalsozialisten zwei seiner Söhne aufgrund ihrer jüdischen Vorfahren beruflich, ein Sohn beging 1935 Selbstmord. Enke erwähnt in Behrings Familie auch weitere Suizide, die sie auf eine familiäre Neigung zu Depressionen zurückführt (372).

Mit der Gründung der Behringwerke in Marburg agierte der Individualist Behring als "Wissenschaftler-Unternehmer" (400). Es fiel ihm jedoch schwer, mit den international erfahrenen und selbstbewussten Geldgebern, wohlhabende Kaufleute aus Bremen, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Mit dem neuen Diphtherieimpfstoff setzte er einerseits seine wirtschaftlichen Ziele energisch durch, andererseits suchte er die Unterstützung des Staats, der Impfungen verpflichtend machen sollte (384). Beim erfolgreichen Verkauf der Sera und Impfstoffe spielte der berühmte Name eine wichtige Rolle, der die Marke Behring begründete und den Behringwerken auch in den folgenden Jahrzehnten einen Wettbewerbsvorteil einbrachte.

Anregend sind besonders jene Kapitel zu lesen, in denen die Autorin in ihrem flüssigen Schreibstil ein lebendiges und spannendes Bild seiner Persönlichkeit mit Ecken und Kanten nachzeichnet. Die ausführlichen Kapitel zu seinen wissenschaftlichen Forschungen sind hingegen wohl eher für medizinisch versierte Leser und Leserinnen geeignet. Insgesamt ist Ulrike Enke durch ihre akribische Quellenarbeit eine multiperspektivische und differenzierte Darstellung über Emil von Behring gelungen. Vor allem hat sie sein Privatleben, seine beruflichen Misserfolge, seine schwierige Persönlichkeit sowie seine Lebenskrisen und Krankheiten anschaulich mit einbezogen. Die wohl beste Kennerin Behrings hat damit eine hervorragende, moderne, kritische und zugleich gut lesbare Biografie auf höchstem wissenschaftlichen Niveau vorgelegt.


Anmerkungen:

[1] Heinz Zeiss/ Richard Bieling: Emil von Behring. Gestalt und Werk, Berlin 1940, 2. Aufl.1941.

[2] Derek S. Linton: Emil von Behring. Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy, Philadelphia 2000.

[3] Kornelia Grundmann: Emil von Behring in Marburg. Ein Lesebuch, Marburg 2019.

Julia Langenberg