Hanna Pahl: Theorie und Ästhetik des Codes. Begriff Wahrnehmung Installationen der zeitgenössischen Kunst, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2023, XVI + 525 S., 26 Farb-Abb., ISBN 978-3-7705-6736-2, EUR 149,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Codes sind als Übersetzungs- oder Abbildungsvorschriften eindeutige Übertragungswege: Der Morsecode zum Beispiel weist Buchstaben Tonsignale zu, digitale Zeichencodierungen dienen in der Informationsverarbeitung der geregelten Übertragung von Informationseinheiten über formale Elemente, etwa im Fall von Binärcodes. Kommunikationssysteme, wie die Gebärdensprache oder die Brailleschrift, basieren auf Bewegungs- oder taktilen Codes und Musik wird über Partituren codiert. Bereits diese kurze Aufzählung zeigt den Facettenreichtum und die komplexe Mittlerfunktion des Codes. Zudem wird deutlich, dass Codes in der Regel im Hintergrund bleiben. In ihrer Forschungsarbeit "Theorie und Ästhetik des Codes" erweitert die Kunsthistorikerin Hanna Pahl dieses Verständnisses des Codes systematisch über den Blick auf die Kunst. Sie zeigt, wie der Code in künstlerischer Arbeit motivisch und strukturell im Vordergrund erscheint und so gewissermaßen materiell wird - bedingt durch das wohl gegenwärtigstes Produktionsparadigma der Gegenwartskunst: Digitalität.
Anlass von Pahls Forschungsarbeit ist der Befund, dass "eine differenzierte Untersuchung, die insbesondere die Verbindung zwischen Code und Bild in künstlerischen Arbeiten zum expliziten Thema macht" und dabei gleichsam "die dynamische Weiterentwicklung der zeitgenössischen Kunst berücksichtigt, bislang nicht erfolgt (ist)". (XI) Aufbauend auf dieser Diagnose entfaltet die Autorin die Bedeutung des Codes als Bindeglied zwischen digitaler Kunst und deren Ikonizität. Pahl folgt der These, dass digitale Codes in der Regel zwar der Wahrnehmung entzogen bleiben, doch in der jüngeren Gegenwartskunst künstlerisch reflektiert und nach außen, also ins Sichtbare gewendet werden. Um dies zu belegen, ist ihre Abhandlung in die drei Teile gegliedert, die bereits im Titel benannt und durch Pahl als Staffelung konzipiert sind: Begriff - Wahrnehmung - Installationen der zeitgenössischen Kunst.
Zu Beginn begegnet Pahl der Begrifflichkeit des Codes transdisziplinär: Sie legt in extensiver Analyse von Primärliteratur - etwa von Barthes, Baudrillard, Derrida, Eco, Flusser, Kittler, Lévi-Strauss oder Manovich - Grundsteine für eine vielschichtige und nuancierte Untersuchung des Codes. Diese wird auch für andere Forschungsdisziplinen hinsichtlich des abstrakten Phänomens des Codes und dessen Erscheinungsweisen von hoher Bedeutung sein, denn Gleiches ist bis dato nicht in dieser Dichte erfolgt: Über dessen Einsatz in der Mathematik und Informatik wird der Code an seinem historischen Gewordensein gemessen (6ff.); Informationstheorie, Kybernetik und Biologie dienen der Autorin dazu, aufzuzeigen, wie der Code sozusagen in das Leben und schließlich die Ästhetik dringt (29ff.). Pahl erweitert zudem die Vorstellung des Codes als Mittler zwischen Zeichen und Bezeichnetem um dekonstruktivistische Lesarten (129ff.) sowie um die Virulenz des Codes in der Medientheorie und -philosophie (149ff.). Dabei stellt sich die Geschichte der Kunst, deren Beziehung zum Code wie deren wissenschaftliche Flankierung als äußerst instruktiv für Pahls Theoretisierung dar.
Für die kunsthistorische Forschung wird ein entscheidender da historisierender Beitrag für das aktuelle Verständnis "Digitaler Kunst" geliefert. Dies geschieht vor allem durch die Darstellung des Codes als nur vermeintlich immaterielles Material in der "Generativen Ästhetik" und "Informationsästhetik" (31ff.). Pahl vernetzt konzise verschiedene Forschungsstände - die Autorin referiert etwa Anheim, Bense, Moles, Nake oder Weibel - mit den Bedarfen künstlerischer Strömungen um Vor- und Frühformen "Digitaler Kunst" seit den 1960er-Jahren. Sie untermauert so die Feststellung, "dass die Programmcodes die Basis digitaler Kunstwerke bilden" (74) - auch in visueller Hinsicht. In diesen Zusammenhängen wird besondere Emphase auf Programmatiken "Konkreter Kunst" oder Bewegungen wie die der "New Tendencies", in der Darstellung des historischen Verlaufs der Analyse auch der "net.art" und "Software Art" gelegt. Eine Aktualisierung im Angesicht des Aufkommens von KI-Technologie wird im Schlusswort mit großem Vertrauen in die Reflexionskraft der Kunst zumindest angekündigt (459).
In ihren Herleitungen im Stil einer von der Kunstgeschichte informierten Medienkulturtheorie geht es Pahl einerseits um eine Kartografie des Codebegriffs und dessen Wandlungsweisen. Andererseits erweitert sie die Idee, dass "Code auf der Oberfläche erscheint und Bild sowie alphanumerischen Code [visuell] zur Koexistenz bringt". (217) Sie konstatiert, dass in codebasierten Übersetzungsverfahren "die Spannung und [der] Oszillationsprozess zwischen dem digital-diskreten Code und der Sichtbarkeit in der zeitgenössischen Kunst" hervortritt und eigene "aisthetische Qualitäten" birgt, die zwischen "Erscheinen und Verschwinden, [...] Transparenz und Opazität sowie [...] Verstehen und Nichtverstehen" (ebd.) liegen. Pahl konkretisiert den Code letztlich als ikonisch sowie gewissermaßen eigengesetzlich bildgebend und damit als Material, das durch den "Einsatz" in der Kunst der ihm vielmals attestierten Formalisierung entgegenstehen kann (215ff.) - als produktionsästhetisch 'Anderes': als ein Moment im künstlerischen Werk, der mehr ist als bloßes Mittel der Kunstproduktion.
Im zweiten Teil ihrer Analyse erweitert Pahl den Codebegriff um dessen "Wahrnehmung" beziehungsweise dessen Potential, wahrgenommen zu werden über kunst- und bildwissenschaftliche, teils medienphilosophische Überlegungen zu einer "Ästhetik des Codes". (219ff.) Diese Grundierung ist zuvorderst ebenfalls theoretisch: Erneut werden verschiedene Positionierung zu visuellen Erscheinungsweisen des Codes aneinander gemessen: etwa Lyotard und Mersch, Boehm, Krämer, Husserl, Mitchell oder Nancy. So legt Pahl weitere Grundsteine hinsichtlich einer Verkettung bestehender und bis dato nicht in dieser Art und Weise verzahnter Kenntnisse zum Code. Dabei kommt die Autorin zum Schluss, dass das ästhetisch "Andere" des Codes, dessen Erscheinungsweise also, sich besonders durch ein Changieren zwischen Grund und Oberfläche auszeichne, die technischen und medialen Bindungen der Kunst reflektiere und ebenso von der Offenheit der Kunst des 21. Jahrhunderts zeuge (264f.). Pahls Vorgehen, der Visualität beziehungsweise "dem Zeigen" der Kunst durch ein theoretisches "Sagen" zu begegnen, wird in ihrem theoriereflexiven Vorgehen also breitenwirksam eingelöst, auch wenn es teilweise sperrig ausgeführt ist (XVI, H. i. O.). Der den Text kontextualisierende Fußnotenapparat ist ähnlich informativ wie der seitens der Autorin aufgebaute Theorieapparat, in Dichte und Umfang allerdings auch ähnlich ausgreifend und die Lektüre wird dadurch stellenweise strapaziös.
Obschon die Legitimität von Pahls Vorgehen außer Frage steht, wäre es nach der ausführlichen Begriffsherleitung erfrischend gewesen, die Begründung für die ästhetische Erweiterung des Codes und dessen Verbindung zum Bildlichen direkt in den äußerst bedacht ausgesuchten Fallstudien zu suchen. Doch erst im folgenden dritten Kapitel zu den "Installationen der zeitgenössischen Kunst" steht die tatsächlich kunsthistorische Analyse von codebasierter Kunst im Zentrum. Pahl widmet sich darin Werken von unmittelbar zeitgenössischen Positionen und sucht deren Verhältnis zum Code herauszuarbeiten. Es stellt ein ebenso ertragreiches wie begrüßenswertes Unterfangen dar, so junge Werke in die Geschichte der Kunst einzuschreiben. Auch daher wirkt dieser Teil der Forschungsarbeit nicht wie ein Appendix bereits theoretisch geleisteter Arbeit, sondern wie ein eigenständiger, lebendiger Untersuchungsteil, da zuvor von Pahl verhandelte Debatten nun am Gegenstand ausagiert, dezidierter ästhetisch gedacht und über die Kunst erweitert werden.
So bespricht die Autorin intermediale Werke, die im installativen Kontext zwischen materialreflexiv (Julius Popp) und retrospektiv (Cory Arcangel) pendeln, gänzlich der Virtualität verschrieben sind (Eduardo Kac) oder klassischere Gattungen digitaltechnisch reformulieren wie die Lichtkunst (Cerith Wyn Evans) oder die Malerei (João Enxuto und Erica Love). Obwohl im Falle des letztgenannten Beispiels das Verhältnis von Installation und singulärem Werk Aushandlungssache bleiben mag, ergibt die produktive Rahmung über die Installation Sinn, kann diese doch als nahezu universeller Fassungsbegriff der Gegenwartskunst gelten (268f.). [1] Dabei gelingt es Pahl - nicht weniger versiert als in ihren Theoriereflexionen - zu zeigen, wie stark die Gegenwartskunst vom Code durchdrungen ist, wie stark aber auch deren Anteil daran ist, diesen ästhetisch zu facettieren. Dies mag, zumindest aus Sicht der Kunstgeschichte, vielleicht der lesenswerteste Teil dieser ebenso akribischen und dichten wie erhellenden Forschungsarbeit sein, die als signifikanter Beitrag zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte und Gegenwart "Digitaler Kunst" und ihrer Materialisationsweisen gelten kann.
Anmerkung:
[1] Alexander García Düttmann: Was ist Gegenwartskunst? Zur politischen Ideologie, Konstanz 2017, 32.
Michael Klipphahn-Karge