Rezension über:

Stephanie Marchal / Kathrin Rottmann (Hgg.): "Ästhetik und Arbeiterschaft". Lu Märtens Entwurf der kritischen Konsumentin (= Praktiken der Kritik; Bd. 5), München: edition metzel 2023, 151 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-88960-238-1, EUR 19,00
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Rezension von:
Amelie Ochs
Institut für Kunstwissenschaft - Filmwissenschaft - Kunstpädagogik, Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Amelie Ochs: Rezension von: Stephanie Marchal / Kathrin Rottmann (Hgg.): "Ästhetik und Arbeiterschaft". Lu Märtens Entwurf der kritischen Konsumentin, München: edition metzel 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/38897.html


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Stephanie Marchal / Kathrin Rottmann (Hgg.): "Ästhetik und Arbeiterschaft"

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Mit "Ästhetik und Arbeiterschaft". Lu Märtens Entwurf der kritischen Konsumentin legen Stephanie Marchal und Kathrin Rottmann Band 5 der Reihe Praktiken der Kritik vor. Diese Reihe hat sich vorgenommen, "modellhafte Positionen" der Kunstkritik vorzustellen und zu analysieren. [1] Das ist im vorliegenden Fall sicherlich gelungen. Zuletzt steigt das Interesse an der 1879 in Berlin geborenen Kunstkritikerin, Schriftstellerin, Sozialistin und Feministin Lu Märten, die bis 1933 im populären Kunst- wie im Fachdiskurs keine Unbekannte war. [2] Ihr nun erstmals publizierter Text von 1914 kann tatsächlich als modellhafte Position im doppelten Sinne gelten: als Vorbild und als Gedankengebäude - gerade deshalb, weil er bis dato nur als Typoskript existierte. Das wird im Buch auch sichtbar: Neben der Einleitung, Märtens Text, vier kommentierenden Essays und den Illustrationen von Nadja Kurz enthält der 150 Seiten umfassende Band ganzseitige Quellenabbildungen, die Einblick in Märtens Textarbeit geben (16f.).

Die (neue) Überschrift trägt beiden Titeln, die Märten andachte (8), Rechnung: Ästhetik und Arbeiterschaft. Oder: Das Arbeiterheim und seine Gestaltung. Im Text umreißt Märten ihre Vorstellungen einer "sozialistischen, das heißt künstlerischen Ästhetik" (27) und zeigt damit, wie Kapitalismuskritik konsequent und feministisch fundiert auf dem Gebiet der Ästhetik weitergedacht werden kann. Der Text referiert eine Vielzahl an Zusammenhängen, die von der "Heimkultur" (ebd.) ausgehen und etwa über die kritische Diskussion der (Waren-)Ästhetik (50f.) bis hin zur Genealogie der Wohnräume (52f.) oder zur (Arbeiter-)Mode (62ff.) reichen. Märtens Hauptanliegen ist, den Konsum als Hebel für gesellschaftliche wie ästhetische Veränderung zu argumentieren. Der Text adressiert die "Arbeiter- und unterbemittelten Schichten" (47) und will aufklärerisch wirken, indem er die Grenzen unreflektierten Konsums aufzeigt, konkrete Handlungsempfehlungen formuliert oder ästhetische Übungen entwirft. Hier bleibt er der moralisierenden, teils polemischen, Rhetorik der Zeit verhaftet, die ihre Argumentation über den Gegensatz von gut und schlecht aufbaut und dabei eine werkbundtypische Dekorfeindlichkeit an den Tag legt (vgl. z.B. 49ff., 64f.). Nicht nur sprachlich, sondern auch hinsichtlich der Kapitalismuskritik und der ästhetischen Grundlagen ist es ein anspruchsvoller, voraussetzungsreicher Text. Damit ist er kommentarbedürftig - was die Herausgeberinnen in der Konzeption des Bandes geschickt berücksichtigen.

So kann der Band selbst als modellhaft für die Herausgabe von historischen Texten betrachtet werden. Denn er liefert nicht nur die "(Nicht-)Editionsgeschichte" (7) zu Märtens Text, sondern auch eine multiperspektivische Kontextualisierung und Aktualisierung in vier separaten Texten: Während Rottmann den Fokus auf Märtens Konzeption des kritischen Konsums als emanzipatorische Praxis legt, konturiert K. Lee Chichester Märtens "markant eigene Stimme" (110) in der Kunstgewerbebewegung als sozialistische wie feministische Alternative zum herrschenden, damals zunehmend nationalistischen und imperialistischen (vgl. 109, 133), Diskurs im Umfeld des Deutschen Werkbundes. In diesem Kontext setzt Andreas Zeising an, um das Spannungsverhältnis zwischen Klassenkampf und moralisierender Didaktik zu beschreiben, in dem Märtens Rhetorik sich bewegt. Marchal widmet sich schließlich Märtens Ästhetik von unten, einer handlungsbasierten, situativen Form von Kritik im Alltag (138). Die kunsthistorische Konsumkritik und Märtens politisch motivierte Geschmackserziehung, die einem exklusiven Zugang zur Kunst und Kunstgeschichte entgegenwirken wollte, bildet bei allen den roten Faden.

Dieser geteilte Fokus muss andere Kontexte, die Märtens Text eröffnet, weitestgehend unberücksichtigt lassen. Dazu gehört das Thema Wohnen, das im Titel prominent gesetzt wird und einen weiteren roten Faden in der Abhandlung spinnt: Märten hängt ihre Ästhetik der Arbeiterschaft nicht etwa an Beispielen der Malerei auf, sondern an Wohnräumen und -praxen, Möbeln und Dekoration. Zugleich bündelt der Text damit zusammenhängende Themen wie Ordnung, Hygiene, Zweckmäßigkeit und Individualität der Einrichtung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg und bevor der Diskurs ums "Wohnen für das Existenzminimum" in den 1920er Jahren an Fahrt aufnimmt, erörtert Märten - modellhaft - unterprivilegierte Wohnverhältnisse. Das "Arbeiterheim" ist der Schauplatz für ihre konsum- und kapitalismuskritischen Analysen. [3] Indem der Text aber nicht nur Ratschläge zum Wohnhandeln formuliert, sondern auch ästhetische und gesellschaftliche (Diskriminierungs-)Strukturen, die sich im Wohnen zeigen, analysiert, regt er zum Nachdenken über die Verschränkungen von Wohnungsfragen und Klassenpolitiken an. [4]

Wenn Marchal Märtens Anliegen mit dem feministischen consciousness raising der 1960er und 70er Jahre vergleicht (141), so lässt sich dies auf die gesamte Publikation übertragen: Sie sensibilisiert, mit Märten, nicht nur für die Themen Geschmacks- und Konsumerziehung, Wohnen und Klasse, sondern auch für Klassenpolitiken in der Kunstgeschichte - trotz oder gerade wegen der Gegensätzlichkeit von reproduzierter bürgerlicher Ästhetik und emanzipatorischem Anspruch. Insofern ist die Publikation von Märtens Text, der sich als Pflichtlektüre für eine klassenbewusste Kunstgeschichte anbietet, nicht nur äußerst begrüßenswert, sondern überfällig. [5]


Anmerkungen:

[1] Vgl. die Verlagswebseite: https://editionmetzel.de/themen/reihe.html [15.04.2024].

[2] Vgl. K. Lee Chichester: Lu Märten (1879-1970): 'Arbeiter und Film', in: Kunsthistorikerinnen 1910-1980. Bd. 1: Theorien, Methoden, Kritiken, hgg. von ders. / Brigitte Sölch, Berlin 2021, 116-126; Jenny Nachtigall / Kerstin Stakemeier: Lu Märten. An Introduction to Four Texts, in: October 178 (2021), 3-14; dies.: Art Work as Life Work: Lu Märten's Feminist 'Objectivity', in: ebd., 35-54; Regina Bittner: Lu Märten im Streit um eine neue Ästhetik. Materialismus und/oder Klassenkampf, in: Linke Waffe Kunst. Die kommunistische Studentenfraktion am Bauhaus, hgg. von Wolfgang Thöner / Florian Strob / Andreas Schätzke, Gütersloh / Berlin 2022, 147-179. Außerdem wurde Märtens Studie "Die Künstlerin" 2020 neu aufgelegt (Aisthesis Verlag Berlin).

[3] Vgl. zum "Schau_Platz" Wohnen Irene Nierhaus / Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur (= wohnen+/-ausstellen, 1), hgg. von Irene Nierhaus / Andreas Nierhaus, Bielefeld 2014, 9-35.

[4] Für 2025 ist dazu eine Ausgabe der kritischen berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften geplant (hgg. von Amelie Ochs / Rosanna Umbach).

[5] Vgl. zur Auseinandersetzung mit den klassistischen Strukturen des Fachs die Arbeit des Kölner Arbeitskreises Erste Generation Kunstgeschichte, der inzwischen eine AG beim Ulmer Verein ist. Vgl. auch den Tagungsbericht von Julius Redzinski: Kunstgeschichte x Klassismus (Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln, 25.-28.09.2023), in: ArtHist.net, 07.12.2023, https://arthist.net/reviews/40453 [03.08.2024]; oder Drehli Robnik (Hg.): Klasse sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien, Münster 2021; Lena Marie Staab: After-Work-Party im Kunstmuseum. Oder: Klassismus in Kunst und Wissenschaft, in: Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien (= Reihe Hochschule, 13), hgg. von Riccardo Altieri / Bernd Hüttner, Marburg 2020, 169-180.

Amelie Ochs