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Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945-1973), München: C.H.Beck 2024, 959 S., 83 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-81396-2, EUR 58,00
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator (1945-1973), München: C.H.Beck 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/38947.html


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Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht

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Seit den 1990er Jahren wollte Ilko-Sascha Kowalczuk, der sich schon früh für die Geschichte des Kommunismus und der DDR interessierte, "eine ganz aus den Quellen" gearbeitete Biografie Walter Ulbrichts schreiben (740). Nachdem er 2023 den ersten Teil über den "deutschen Kommunisten" bis 1945 veröffentlicht hat, legt er nun den zweiten, genauso umfangreichen Band über den "kommunistischen Diktator" vor. Der Autor ist sich bewusst, wie schwierig gerade in diesem Fall die Trennung von Amt und Person ist. Er stellt zwar den Funktionär und Menschen Walter Ulbricht in den Mittelpunkt seiner Darstellung; dennoch ist es bei einer so dominierenden Gestalt kaum zu vermeiden, dass sich das Buch über weite Strecken wie eine politische Geschichte der SBZ/DDR von 1945 bis 1973 liest.

Ulbricht kam 1945 in einer Schlüsselposition aus Moskau nach Deutschland zurück. Er leitete die wichtigste der drei Initiativgruppen, die noch vor Ende der Kampfhandlungen Anfang Mai in enger Kooperation mit den sowjetischen Besatzungstruppen den deutschen öffentlichen Dienst von ehemaligen Nationalsozialisten säubern und neue Verwaltungsstrukturen aufbauen sollten. Gemeinsam mit Wilhelm Pieck dominierte er die wiedergegründete KPD. Doch während Pieck erst ab dem 1. Juli wieder in Berlin weilte, war Ulbricht vom 30. April an vor Ort, so dass von Anfang an "kaum eine wichtige Entscheidung in der SBZ [...] ohne sein Zutun" erfolgte (73).

Kowalczuk bezweifelt wohl zu Recht, dass Ulbricht den allein von Wolfgang Leonhard überlieferten Satz, "Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten", damals so ausgesprochen hat. Er attestiert Ulbricht ein "instrumentelles Demokratieverständnis"; als "gelehrige[r] Schüler Lenins und Stalins" habe er vor allem auf die Auswahl und den richtigen Einsatz der Kader Wert gelegt (82). Dazu erhielt er auch bei der Verteilung der Aufgaben im KPD-Sekretariat die entscheidenden Zuständigkeiten, vor allem die, zu den Besatzungsbehörden Verbindung zu halten. Mit deren Rückendeckung sicherte er sich die Herrschaft in der Partei, unter anderem durch den Aufbau eines geheimen Überwachungsapparats. Die Partei wiederum sah er schon im Herbst 1945 "als Führerin des Volkes und als organisierende Kraft beim Wiederaufbau", die an der Gestaltung des neuen Staates mitwirken müsse (125). Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung unternahm die KPD 1946, als sie sich mit massiver sowjetischer Unterstützung mit der SPD zur SED vereinigte - eine Aufgabe, die ebenfalls "in hohem Maße Ulbrichts Werk" war (160).

Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass Ulbricht in den Jahren bis 1948 immer wieder von sowjetischen Instanzen kritisiert wurde. Er konnte sich jedoch halten, weil Stalin und dessen Getreue ihn weiter protegierten. Das war nachvollziehbar, da sich Ulbricht, auch wenn er einen schroffen persönlichen Umgang pflegte und unbeliebt war, als bienenfleißiger und überaus fähiger Organisator hervortat. In der frühen DDR festigte Ulbricht, ab 1950 SED-Generalsekretär, seine Stellung und blieb weiter wichtigster Ansprechpartner der sowjetischen Herrschaftsträger, der allerdings aus Wut in deren Hauptquartier "auch mal mit der Faust auf den Tisch schlagen" konnte (247). Gegenüber Stalin traute er sich das offensichtlich nicht, sondern setzte meist um, was ihm dieser befahl: Nur bei der entscheidenden 2. SED-Parteikonferenz im Juli 1952 ging er mit der Rede von den "volksdemokratischen Grundlagen" der DDR und über den forcierten Aufbau des Sozialismus über die Weisung Stalins hinaus, der größere Zurückhaltung angemahnt hatte.

Als infolge dieses verschärften Kurses die Unzufriedenheit der Ostdeutschen im Volksaufstand vom Juni 1953 kulminierte, der nur mit sowjetischen Truppen niedergeschlagen werden konnte, war Ulbrichts Stellung bedroht wie nie zuvor. Eine in die DDR geschickte Sonderkommission forderte am 24. Juni gar, worauf Kowalczuk erstaunlicherweise nicht eingeht, dessen Absetzung. Als sich in Moskau jedoch die Führungssituation nach Stalins Tod mit der Absetzung Berijas klärte, konnte auch Ulbricht seine Position mit der Verdrängung seiner Gegner Herrnstadt und Zaisser aus dem Politbüro wieder stabilisieren. 1956, als Ulbricht sich dem Entstalinisierungskurs infolge des XX. KPdSU-Parteitags nur halbherzig anschloss und sich erneut eine innerparteiliche Opposition gegen ihn bildete, war er weitaus weniger gefährdet, insbesondere nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Truppen. Wie sehr Ulbricht damals an Selbstbewusstsein gegenüber der sowjetischen Führung gewonnen hatte, wird daran deutlich, dass er, was Kowalczuk nicht erwähnt, im Oktober 1956 Chruschtschow indirekt dafür kritisierte, dass es in Ungarn und Polen zu den Aufständen gekommen war.

Die inneren Entwicklungen in der DDR der 1950er Jahre werden zwar ausführlich behandelt, unter anderem die Auseinandersetzung mit der Jungen Gemeinde, die im Frühjahr 1953 mit der Relegierung von deren Anhängern aus den Oberschulen ihren Höhepunkt erlebte. Allerdings wurden nicht, wie Kowalczuk schreibt, 3000, sondern 832 Oberschüler entlassen. Den persönlichen Einsatz Ulbrichts bei der Verdrängung des Religionsunterrichts aus den Schulen, zunächst in Ost-Berlin und dann in der ganzen DDR, erwähnt er leider nicht. Auch bei der Darstellung der 1954 eingeführten und bis 1957 durchgesetzten Jugendweihe kommt die Rolle Ulbrichts zu kurz: So schreibt der Autor zwar, dass Ulbricht 1957 gegen das hinter seinem Rücken eingeführte Jugendweihebuch "Unser Deutschland" (den Titel nennt er nicht) an Stelle des massiv atheistischen "Weltall-Erde-Mensch" wetterte und dieses zurückgezogen wurde. Dass dieser nun die Durchsetzung der Jugendweihe, deren Freiwilligkeit bis dahin betont wurde, zur Chefsache machte und selbst in Sonneberg im September 1957 dieses Ritual de facto zu einer staatlichen Angelegenheit erklärte, schreibt er indes nicht. Hier, wie bei Ulbrichts Verkündung der "Zehn Gebote sozialistischer Moral" (1958) als Gegenkonzept zum biblischen Dekalog, hätte sich auch eine Bezugnahme auf dessen im ersten Band thematisierte, antikirchliche Sozialisation angeboten.

Kowalczuk attestiert Ulbricht, beim Bau der Berliner Mauer 1961 "der entschiedenste Antreiber" gewesen zu sein (507). Doch während einerseits die Mauer, die Ulbricht "unsterblich" gemacht habe, das wichtigste Symbol seines Systems gewesen sei, begann gleichzeitig - mit der zweiten Phase der Entstalinisierung - die vielleicht "hoffnungsfroheste, zukunftsträchtigste" Zeit der DDR überhaupt (490). Wenngleich gefragt werden kann, ob die zweite Aussage nicht auch auf die ersten Jahre der Ära Honecker zutrifft, ist doch diese Dichotomie auffällig. Gewiss waren nun die stalinistischen Zeiten vorbei, aber auch in den 1960er Jahren, die anfangs eine Zeit begrenzter wirtschaftlicher Reformen und kultureller sowie jugendpolitischer Lockerungen war, bildete die DDR eine Diktatur, die nur überleben konnte, wenn sie ihre Bürger einsperrte. Ulbricht schuf in dieser Zeit, unmittelbar nach dem Tod von Präsident Wilhelm Pieck 1960, mit dem Staatsrat, dem er selbst vorstand, ein weiteres, bisher weitgehend unbeachtetes staatliches Machtinstrument, das ihm die Möglichkeit bot, Beschlüsse schnell herbeiführen zu können. Trotz Rückschlägen, etwa bei der Wirtschaftspolitik, befand sich Ulbricht Kowalczuk zufolge in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre "auf dem Höhepunkt seiner Macht", wenngleich es ab 1968 erste Hinweise auf einen Abstieg gab (591).

Die Biografie versucht nicht nur den Machthaber Ulbricht, sondern auch die anderen Seiten seiner Persönlichkeit zu erfassen. Einen gewissen Respekt nötigt dieser seinem Biografen ab, nicht nur wegen seines enormen Arbeitspensums, sondern auch wegen seiner Intelligenz, so dass er sich als Autodidakt in die unterschiedlichsten Bereiche einarbeiten konnte. Das betraf nicht nur die für einen kommunistischen Organisator naheliegende staatliche Verwaltung und Staatsordnung, sondern auch mit der Kybernetik die Modewissenschaft der 1960er Jahre. Zu Recht hebt der Autor Ulbrichts nachhaltiges Interesse an der Geschichtswissenschaft hervor, der darin seinen "dritte[n] Beruf" sah (569). Deutlich wurde dies insbesondere an der achtbändigen, unter seiner Leitung erarbeiteten, differenziert beurteilten "Geschichte der Arbeiterbewegung" von 1966. Darüber hinaus behandelt Kowalczuk die Bildungsbeflissenheit Ulbrichts, die etwa an seiner umfangreichen Privatbibliothek deutlich wird, aber auch dessen Interesse an Architektur und Stadtplanung (in die er sich gern einmischte). Auf der anderen Seite geht es dem Autor auch um die zeitgenössische Darstellung Ulbrichts - auf Porträts, in Karikaturen, auf Briefmarken, in Witzen und nicht zuletzt in den Westmedien.

Ulbricht musste in den 1950ern, besonders aber seit den 1960er Jahren oft mit gesundheitlichen Problemen kämpfen, was angesichts seines Alters - 1963 wurde er 70 Jahre - nicht weiter verwunderlich ist, aber bisher noch nie so ausführlich thematisiert wurde. Dass er dennoch so lange lebte, hing auch damit zusammen, dass er sich gesund ernährte, wenig Alkohol trank und bis ins hohe Alter Sport trieb. Ausführlich behandelt Kowalczuk auch das persönliche Umfeld Ulbrichts: Neben seinem persönlichen Stab und den Hausangestellten war das vor allem seine Familie - von Freunden ist bezeichnenderweise nie die Rede. Immer wieder steht vor allem Lotte Ulbricht im Fokus, die in den ersten Jahren nach 1945 noch wichtige Parteifunktionen innehatte, bevor sie im folgenden Jahrzehnt zwar offiziell für ihre Arbeit am Institut für Marxismus-Leninismus weiterhin bezahlt wurde, sich aber auf die Rolle als engste Beraterin ihres Mannes und "First Lady" (628) in der DDR beschränkte. Thematisiert wird auch das tragische Leben der Adoptivtochter Beate, für die die Ulbrichts nie das richtige Verständnis aufbrachten und die 1991 Suizid beging.

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, als Ulbricht zunehmend von seinem Landsitz in Groß-Dölln aus regierte, musste dieser mit einer neuen Konstellation umgehen. Zum einen verlor er mit der Absetzung Chruschtschows 1964 einen mächtigen Unterstützer in Moskau. Dessen Nachfolger Breschnew erinnerte sich noch gut daran, wie Ulbricht 1964 versucht hatte, ihn über den Erfolgskurs in der DDR zu belehren. Gleichzeitig, so Kowalczuk, wurde Honecker, der jahrelang Ulbricht treu ergeben gewesen war, zum Anführer der "konservativen Gegenspieler" des Parteichefs (651). Er belegt das vor allem mit den Auftritten der beiden auf dem Plenum des SED-Zentralkomitees vom Dezember 1965, wo etwa mit dem Verbot von zwölf DEFA-Filmen vor allem die kulturpolitische Öffnung der vorangegangenen Jahre rückgängig gemacht wurde. Doch stellt sich die Frage, ob beide Politiker in dieser und anderen Fragen wirklich so unterschiedlicher Meinung waren. Neue Belege für die seit längerem kursierende These, dass Honecker in seiner auf diese Zeit zurückgehenden Rivalität mit Ulbricht "mit Moskaus Rückendeckung die Oberhand erhielt" (655), kann Kowalczuk nicht anführen. Fest steht indes, dass diese Rivalität seit 1969 bestand und sich vor allem in divergierenden Antworten auf die Neue Ostpolitik Willy Brandts äußerte. Das kulminierte in dem bereits gut erforschten Zusammenspiel zwischen Breschnew und Honecker bei dem erzwungenen Rücktritt Ulbrichts am 3. Mai 1971. Wenngleich er lebensgefährlich erkrankt war, plante er nach seiner Absetzung noch, seine Erinnerungen zu schreiben, "nichts weniger als die ultimative Deutung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert" (705) - doch außer Bruchstücken ist davon nichts überliefert. Ulbricht starb kurz nach seinem 80. Geburtstag am 1. August 1973 auf Groß-Dölln.

Mit dem zweiten Band hat Kowalczuk sein Werk vollendet - eine beachtliche Leistung, der trotz der genannten Fehlstellen und Einwände Respekt zu zollen ist. Auffällig ist die Kleinteiligkeit der Darstellung, bedingt durch ein weitgehend chronologisches Verfahren. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, bestimmte Themen aus Ulbrichts Sicht übergreifend und stärker reflektierend zu behandeln, etwa seine Einstellung zur deutschen Frage, sein Verhältnis zur Besatzungsmacht oder seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Abschließend stellt sich noch einmal die Frage, ob, wie Kowalczuk am Ende schreibt, Ulbrichts historische Bedeutung wirklich "in einer Reihe mit Ebert, Adenauer, Brandt, Kohl oder Hitler zu sehen ist" (729). Dagegen spricht, dass er zwar "keine willenlose Marionette" Moskaus war (362), aber doch über sehr viel weniger Bewegungs- und Gestaltungsspielraum als die anderen genannten Persönlichkeiten verfügte. Die Biografie zeigt vielmehr, dass am Beginn und am Ende seiner Nachkriegskarriere die Machthaber im Kreml standen.

Hermann Wentker