Wolf Kaiser (Hg.): Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher (= Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur; Bd. 12), Berlin: Metropol 2022, 607 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-640-2, EUR 39,00
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Am 22. September 1942 schreibt die gerade 17-jährige Miriam Chaszczewicka im Ghetto von Radomsko trotz der "Gewissheit des bevorstehenden Todes" über den Sinn ihres Tagebuchschreibens und artikuliert darin die Hoffnung, dass dieses Tagebuch "nicht kläglich in einem Ofen oder auf einer Müllhalde landen" sollte: "Ich möchte, dass jemand es findet, sogar ein Deutscher, und es liest. Ich möchte, dass das, was ich geschrieben habe und was im Vergleich zu dem, was ich zusammen mit meinen Verwandten und Freunden erlebt habe, ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, ein wahres Zeugnis und Abbild unserer Zeiten wird." (301)
Für die hier zu besprechende Publikation hat dieser Auszug geradezu leitmotivischen Charakter. So hat sich der Herausgeber Wolf Kaiser dieser von Miriam Chaszczewicka artikulierten Hoffnung angesichts des Unvorstellbaren angenommen und sie mit der vorliegenden Edition erfüllt. In ihr werden, neben den Aufzeichnungen von Miriam Chaszczewicka, erstmalig Auszüge aus Tagebüchern von 30 jüdischen Kindern und Jugendlichen präsentiert, die bislang größtenteils unveröffentlicht oder unübersetzt waren und deren Verfasser:innen weitgehend unbekannt geblieben sind.
Die Edition bringt somit wichtige Stimmen hervor, die zuvor ungehört, macht individuelle Geschichte(n) der Opfer zugänglich, die bis dato unerzählt waren. Die Millionen Opfer bekommen hier Gesichter und Stimmen. Und es sind diese Stimmen, die, mit Saul Friedländer gesprochen, "unverzichtbar" sind, "wenn wir zu einem Verständnis für diese Vergangenheit gelangen wollen." [1] Vor dem Hintergrund des Topos vom Verschwinden der Zeitzeug:innen einmal mehr.
Ausgewählt wurden vom Herausgeber dabei lediglich Tagebücher, die in den Jahren des Holocausts geschrieben wurden. Es handelt sich somit um Ego-Dokumente, die nicht nachträglich durch das schreibende Ich oder andere Personen überarbeitet worden sind. Über diesen Auswahlprozess und die damit verbundenen Schwierigkeiten, Herausforderungen und notwendigen Auslassungen gibt der Herausgeber in seiner instruktiven Einleitung ausführlich Auskunft.
Angeordnet wurden die einzelnen Tagebuchauszüge von ihm nach politisch-geographischen Geschichtspunkten. Die Edition umfasst so Ego-Dokumente aus mehreren Ländern (Österreich und Deutschland, Frankreich, Niederlande, Protektorat Böhmen und Mähren, Rumänien, Warthegau und Generalgouvernement, Reichskommissariat Ostland, Sowjetunion und Ungarn), von unterschiedlichen Altersgruppen (Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 11 und 24 Jahren) und Texte, die in unterschiedlichen Gattungsformen, an verschiedenen Verfolgungs- und Vernichtungsorten des Holocausts geschrieben worden sind. Den jeweiligen Tagebuchauszügen vorangestellt sind dabei jeweils kurze biographische Skizzen, die ebenfalls Auskunft über die Überlieferungsgeschichte der abgedruckten Tagebücher geben.
Die bereits 2022 veröffentlichte Anthologie hat kurz nach ihrem Erscheinen zu Recht breite und durchweg positive Resonanzen erfahren. [2] Diesen Besprechungen ist auch in der vorliegenden Rezension nichts hinzuzufügen. Und so stellt sich die Frage, wie man überhaupt ein Buch besprechen kann, das einem so nahe geht, wie es diese Edition tut?
Vielleicht in dem ich versuche, zu beschreiben, was die Lektüre dieses Bandes, der Umgang mit seinen enthaltenen Lebensgeschichten, mit uns als Leser:innen macht. Die Texte fordern uns heraus, historische Fragen zu stellen, Antworten zu finden und Geschichte(n) zu erzählen. Aber eben nicht nur.
Denn dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen jüdischer Kinder und Jugendlicher aus den Jahren 1933 bis 1945. Es ist nicht nur Quellensammlung und Zeugnis der menschenverachtenden Vernichtungspolitik der Nationalsozialist:innen, sondern eben auch Denk- und Mahnmal, Erinnerungs- und Bildungsort zugleich. Die einzelnen Texte geben einen Einblick in etwas, was sich nicht in Sprache übersetzen lässt und von dem wir heute doch alle wissen. Die Lektüre der Texte schafft es, eine Distanz zu diesem historischen Wissen herzustellen und gleichzeitig eine Nähe zu schaffen, die es ermöglicht, das vergangene Fremde, das Unvorstellbare, in seiner Alterität wahrzunehmen und in einen Dialog mit den anwesend-abwesenden Stimmen der Opfer und ihrer Lebenswelten zu gelangen. Die Texte vermitteln im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Und sie affizieren uns, lassen uns nicht los, machen stumm und wütend, sprachlos und laut.
Die Lektüre des Bandes und seiner ausgewählten Tagebuchauszüge ermöglicht so das Gewahr werden der ästhetischen Dimension des Historischen und seiner Geschichte(n) und macht die Edition deshalb nicht nur zu einer vorbildlichen Quellensammlung für die historische Forschung, sondern gerade deswegen zu einem bedeutenden Ort für das Geschichtslernen und einer vielgestaltigen Holocaust Education. [3]
Anmerkungen:
[1] Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2006, 12.
[2] Einen Überblick unter https://metropol-verlag.de/produkt/der-papierene-freund-holocaust-tagebuecher-juedischer-kinder-und-jugendlicher/.
[3] Vom Herausgeber der Edition liegen auch Vorschläge für die konkrete Unterrichtspraxis vor: Vgl. Wolf Kaiser: Tagebücher im Unterricht über die Shoah, in: Didactica Historica 5 (2019), 125-130; online unter https://www.codhis-sdgd.ch/wp-content/uploads/2020/04/Didactica-5_2019_Kaiser.pdf.
Christian Heuer