Martin Sabrow: Zeitenwenden in der Zeitgeschichte, Göttingen: Wallstein 2023, 88 S., ISBN 978-3-8353-5434-0, EUR 18,00
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Martin Sabrow / Susanne Schattenberg (Hgg.): Die letzten Generalsekretäre. Kommunistische Herrschaft im Spätsozialismus, Berlin: Ch. Links Verlag 2018
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Seit einigen Jahren prägen zwei prominente und miteinander verbundene Krisendiagnosen die Debatten über Geschichte. Zum einen adressieren Historiker:innen auf beiden Seiten des Atlantiks mit dem Begriff des Präsentismus die vermeintliche Auflösung einer nötigen Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Postmoderne. [1] Für den Bereich der Erinnerungskulturen, deren enormer Bedeutungsgewinn für diesen Distanzverlust verantwortlich gemacht wird, konstatierte zum anderen Aleida Assmann bereits 2013 einen Erosionsprozess des bundesdeutschen Aufarbeitungskonsenses der 1980er und 1990er Jahre. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem "neuen Unbehagen": ein Gefühl, das zunehmend im Zentrum von Auseinandersetzungen über erinnerungskulturelle Prozesse stehe. [2]
In "Zeitenwenden in der Zeitgeschichte" führt Martin Sabrow seine Perspektive auf diese Krisendiagnosen mit seiner langjährigen Forschung zu Zäsuren zusammen. Der Essay ist eine erweiterte Fassung seiner Abschiedsvorlesung vom 6. Juli 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sowohl die Vorlesung als auch der vorliegende Band entstanden unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine. Dies spiegelt sich darin wider, dass Sabrow nicht allein eine Bestandsaufnahme seiner eigenen Disziplin - der Zeitgeschichte - offeriert. Er unternimmt auch eine geschichtswissenschaftliche Systematisierung des derzeit ubiquitären, aber bislang eher medienpolitisch verwendeten und unscharf bleibenden Begriffs der "Zeitenwende". Darüber hinaus reflektiert der Autor über den 24. Februar 2022 teilweise in der Ich-Form und lässt seine "persönliche Identifizierung mit dem Projekt der historisch-kritischen Aufklärung" in die Argumentation einfließen (81). Diese Offenlegung des eigenen Standpunkts ist nicht selbstverständlich und sehr zu begrüßen. Sie lädt zu einer fruchtbaren Debatte über die generationelle Bedingtheit geschichtswissenschaftlicher Paradigmen und das Selbstverständnis des Faches ein.
Der Essay führt in das Thema der Zeitenwenden ein, indem er zunächst die Zeitgeschichte als einen Teilbereich der Geschichtswissenschaft an der Grenze zur Gegenwart konturiert. Gerade ihr liminaler Charakter mache die Zeitgeschichte zu einem interessanten Ausgangspunkt, so Sabrow, von dem aus der geschichtswissenschaftliche Umgang mit Zäsuren erforscht werden kann. Neben der Unterscheidung zwischen Erfahrungs- und Deutungszäsuren differenziert Sabrow auch zwischen Zäsuren, die einer bestimmten Ordnung inhärent sind, und solchen, die einen Ordnungswandel herbeiführen. Für Letztgenannte bringt er den Begriff der Zeitenwende ins Spiel. Zeitenwenden setzen für Sabrow "neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens" (22), die vor dem Eintreten einer Zeitenwende nicht absehbar waren, danach aber als unverzichtbar erscheinen.
Obwohl Sabrow die kulturelle Dimension dieser Ordnungen immer wieder anspricht, verortet er Zeitenwenden primär auf der politisch-rechtlichen Ebene des Nationalstaates. Dies schlägt sich in seiner Auswahl der Zeitenwenden von 1918, 1933, 1945 und 1989 nieder, denen der erste Teil des Buches gewidmet ist. Sabrow verfolgt dabei einen originellen und ergiebigen gruppenbiographischen Ansatz, der allerdings ein primär politikgeschichtliches Verständnis bestimmter Epochen bestätigt: Im Zentrum der Analyse stehen die Bewältigungsstrategien verschiedener politischer Gruppierungen, etwa Konservative und Sozialisten für 1918 oder NS-Kader und Mitläufer-Mehrheitsgesellschaft für 1945. Anders definierte soziale Kategorien, zum Beispiel Frauen, oder der in den letzten Jahren viel erforschte Struktur- und Zeitwahrnehmungswandel der 1970er Jahre geraten dabei aus dem Blick. Eine partielle Ausnahme bildet die Zeitenwende von 1989, mit der sich Sabrow insgesamt am intensivsten auseinandersetzt, unter anderem unter dem Gesichtspunkt sozioökonomischer Erfahrungen wie der Massenarbeitslosigkeit.
Mit seinem Ansatz eröffnet Sabrow zwei interessante Perspektiven auf die Spezifika von Zeitenwenden als geschichtswissenschaftliche Phänomene. Die erste ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen radikalen staatspolitischen Umbrüchen und den untersuchten biographischen Erzählungen. Sabrow stellt für alle vier untersuchten Wendejahre gruppenspezifische Erzählungen sowohl von Kontinuität als auch der Unterscheidung zwischen einer Zeit davor und danach fest. Politische Systemwechsel entsprechen also einerseits nicht zwangsläufig biographischen Zäsuren und andererseits werden sie gerade durch biographische Zäsurerfahrungen als Zeitenwenden mitkonstruiert. Zweitens werden Zeitenwenden - über die Analyse ihrer gruppenspezifischen Bewältigungsstrategien - als Momente der Neuverhandlung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erkennbar. Beide Perspektiven transportieren die Einsicht, dass sich Zeitenwenden im Nachhinein nicht an einem objektiv messbaren Revolutionskoeffizienten festmachen lassen. Vielmehr erscheinen sie als Zeitfiguren, die aus dem komplexen Zusammenspiel von erlebtem Zeitgefühl und gedeuteter historischer Zeit entstehen und die (Un-)Gleichzeitigkeit beider produzieren.
Eine solche Auffassung leitet die Frage nach der aktuell so häufig ausgemachten Zeitenwende ein, die Sabrow im zweiten Teil des Buches diskutiert. Obwohl der Angriffskrieg gegen die Ukraine keine tiefgreifende Veränderung der staatlich-politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zur Folge hatte, ist das Jahr 2022 für Sabrow Kristallisationspunkt und Offenbarungsmoment eines sich schon vorher abzeichnenden Paradigmenwechsels in Erinnerung und Zeitgeschichte. Dieser Bruch im Zeitempfinden unterscheide den 24. Februar 2022 von der Erfahrung der Covid-19-Pandemie - für Sabrow eine nur scheinbare, schnell überwundene Zäsur. Diese rasche Archivierung eines möglichen Zäsurcharakters von 2020 wirkt nicht unbedingt überzeugend, nicht zuletzt wegen der globalen Reichweite der Pandemie und ihres Veränderungspotenzials für die Wahrnehmung historischer Zeit in ihrer Prägung nicht nur durch Menschen, sondern auch durch nicht-menschliche Akteure.
Sabrows Interpretation des Jahres 2022 als Moment der Verdichtung, Beschleunigung und des Wiederauftauchens einer Reihe von Rissen im Historischen bietet aber auch fruchtbare Denkanstöße für eine Metareflexion über Zeit, Erinnerung und Geschichte. Zunächst begreift er diese Zäsur in begriffsgeschichtlicher Tradition als schleichende "gemeinsame Verschiebung im sprachlichen Sinnhorizont der Gegenwart" (50). So lässt sich der russisch-ukrainische Krieg als eine Art deutsche (und in gewisser Weise gesamteuropäische) "Sattelzeit" für geopolitische Begriffe wie Aufrüstung oder Pazifismus verstehen. Zudem verbindet Sabrow die radikale Infragestellung des bundesrepublikanischen Mottos "Nie wieder Krieg" durch den 24. Februar 2022 mit einer generellen Erschütterung des deutschen erinnerungskulturellen Paradigmas. Dabei führt er die Krise der opferzentrierten, postheroischen Geschichtsaufarbeitung der 1980er und 1990er Jahre auf sehr unterschiedliche Ursachen zurück: die Rhetorik der AfD, der Verlust des gegenwartskritischen Potentials der historischen Aufklärung, die Entwicklung einer "Ästhetik des Grauens" (71), das Aussterben der Zeitzeug:innen, die Öffnung für postkoloniale Perspektiven oder der Druck, die deutschen Lehren aus der NS-Geschichte unter Einbeziehung ostmitteleuropäischer Perspektiven zu überdenken. Dieses breite Ursachenspektrum zeigt, dass Formen und Praktiken des Erinnerns daher nicht als etwas Statisches zu verstehen sind.
Schließlich sieht Sabrow in der aktuellen, retrospektiven Anprangerung der Ostpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre wie in den dekolonialen Bestrebungen zur Umbenennung deutscher Straßen eine bedenkliche Übertragung gegenwärtiger Kategorien auf Vergangenes, was die Alterität der Vergangenheit unterminiere. Die Dramatik dieses Präsentismus-Horizonts knüpft Sabrow an seine eigene Zugehörigkeit zum Generationsprojekt der Aufklärung. Dem lässt sich mit einem Kommentar Aleida Assmanns zu François Hartog entgegnen, dass gerade die dekolonialen Impulse von einem großen Bedürfnis nach Distanzierung von der Vergangenheit zeugen und dass jüngere Ansätze der Multitemporalität neue Perspektiven auf das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart eröffnen. [3] Das Abschlussplädoyer von Sabrow für die Zeitgeschichte sowie sein Insistieren, sie solle die "Anwältin" der Fremdheit der Vergangenheit sein, ist dennoch eine wichtige Mahnung für die Geschichtswissenschaft, "nicht die Legitimationswünsche der Gegenwart zu bedienen" (87). Damit schließt diese thematisch breit angelegte, sehr lesenswerte und diskussionsanregende Publikation, die den starken theoretisch-metahistorischen Beitrag von Sabrows wissenschaftlichem Werk noch einmal bestätigt und erweitert.
Anmerkungen:
[1] François Hartog: Régimes d'historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003; Lynn Hunt: Against Presentism, in: Perspectives on History (1.5.2002). https://www.historians.org/perspectives-article/against-presentism-may-2002/.
[2] Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013.
[3] Aleida Assmann: Conclusion. A Creed That Has Lost its Believers? Reconfiguring the Concepts of Time and History, in: Marek Tamm / Laurent Olivier (eds.): Rethinking Historical Time. New Approaches to Presentism, London 2019, 207-218.
Clara M. Frysztacka