Britt Schlünz: Pastoral und Politik. Katholische Frömmigkeit im Spanien des 19. Jahrhunderts (= Schriftenreihe "Religion und Moderne"; Bd. 29), Frankfurt/M.: Campus 2024, 366 S., ISBN 978-3-593-51747-6, EUR 45,00
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Die Forschung zum spanischen 19. Jahrhundert hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine starke Expansion erlebt, vor allem in Spanien selbst, aber auch in der englischsprachigen Historiographie. Dabei lagen wichtige Forschungsschwerpunkte auf dem hart umkämpften Übergang vom Absolutismus zum liberalen Konstitutionalismus, auf der Wahrnehmung und Selbstdarstellung der Monarchie, auf der hochbrisanten Rolle der katholischen Kirche im schwierigen Prozess der Modernisierung sowie auf der langen Agonie des einst weltumspannenden Kolonialreichs. In ihrer Dissertation, die Birgit Aschmann betreut hat, verknüpft Britt Schlünz diese Themen zu einer Studie, die anhand der Karrieren zweier prominenter geistlicher Akteure das Ringen um die normative Orientierung der Nation in der Ära Königin Isabels II. (1833-1868) untersucht: der Nonne Sor Patrocinio, die zuerst als vermeintlich Stigmatisierte und später als Vertraute der Monarchin Furore machte, sowie des Priesters und Ordensgründers Antonio María Claret, der als königlicher Beichtvater eine noch mächtigere Stellung am Hof erlangte. Obwohl zu beiden Protagonisten bereits eine umfangreiche Literatur vorliegt, besticht die Studie durch ihre originelle Komposition, die die individuellen Lebenswege und Frömmigkeitsideale der beiden Hauptfiguren vor dem breiteren Panorama der spanischen Geschichte aufrollt und auch immer wieder allgemeineuropäische Zusammenhänge berücksichtigt. Infolge der Prominenz ihrer Protagonisten kann sich Schlünz über weite Strecken auf publizierte Quellen stützen, ergänzt diese aber punktuell durch Materialien aus spanischen, vatikanischen und kubanischen Archivbeständen. In ihrer analytischen Begrifflichkeit schließt sie eher locker an Pierre Bourdieus Feldtheorie an: Sie will zeigen, wie die Akteure innerhalb des religiösen Feldes um Positionen konkurrierten und wie sie dessen Grenzen zum Feld der Politik definierten beziehungsweise zu verschieben trachteten. Den Handlungsrahmen bildet also der epochale Kulturkampf zwischen katholischer Kirche und säkularem Staat, der in Spanien besonders vehement ausgefochten wurde.
Das Buch gliedert sich nach der Einleitung in fünf chronologisch geordnete Hauptkapitel. Das erste fokussiert auf den Gerichtsprozess, den staatliche Stellen 1835/36 - inmitten des Ersten Karlistenkrieges - gegen die junge Sor Patrocinio, Angehörige des Konzeptionistinnen-Ordens in Madrid, anstrengten: Anlass war, dass kursierende Nachrichten über ihre (mutmaßlich betrügerisch herbeigeführten) Wundmale und (pro-karlistischen) Visionen subversiv wirkten. Das zweite Kapitel ist der frühen Karrierephase des Priesters Claret gewidmet, die dieser in den 1840er Jahren als Volksmissionar und Herausgeber religiöser Schriften in seiner Heimatregion Katalonien zubrachte. Das dritte Kapitel begleitet wiederum Sor Patrocinio, die nach ihrer Verbannung aus der Hauptstadt in den 1840er Jahren nach Madrid zurückkehrte, erfolgreich die Nähe zur königlichen Familie suchte und mit deren finanzieller Unterstützung selbst eine Reihe neuer Konvente ihres Ordens errichten konnte, indes auch erneut ins Schussfeld antiklerikaler Anfeindungen geriet. Schauplatz des vierten Kapitels ist die Kolonie Kuba, wo Claret in den 1850er Jahren als Erzbischof von Santiago amtierte und mit missionarischem Eifer gegen die weitverbreitete Sünde des Konkubinats, vornehmlich zwischen weißen Männern und nichtweißen Frauen, zu Felde zog: Er insistierte unter Drohung mit Sanktionen bis hin zur Exkommunikation auf Trennung oder aber auf Trauung der Paare, was ihn in scharfen Gegensatz zur rassistisch strukturierten Kolonialgesellschaft brachte. Das fünfte Kapitel behandelt die späten 1850er und 1860er Jahre, als sowohl Sor Patrocinio als auch Claret im engsten Umfeld der königlichen Familie verkehrten, was sie in liberalen Augen der klerikal-reaktionären politischen Einflussnahme verdächtig machte. Im Zuge der Revolution von 1868, die Isabel II. zu Fall brachte, mussten beide mit ihr ins französische Exil fliehen. Im Schlusskapitel resümiert Schlünz die Befunde, zeigt weiterführende europäische Vergleichsperspektiven auf und skizziert das Nachleben ihrer Protagonisten bis in die Gegenwart.
Insgesamt überzeugt die Studie, doch sind auch Kritikpunkte zu nennen. Zum einen schwankt die redaktionelle Sorgfalt, die die Autorin investiert hat: Streckenweise häufen sich Tipp- und Grammatikfehler sowie kleinere Unstimmigkeiten, und die Übersetzung von Quellenzitaten ist mitunter so schief, dass man gut daran tut, den in den Fußnoten mitgelieferten Originaltext zu konsultieren. Zum anderen überzeugen nicht alle Teile inhaltlich gleichermaßen. Den beiden Kapiteln zu Sor Patrocinio will es nicht recht gelingen, diese wunderliche, von Gerüchten und Verdächtigungen umrankte Geschichte zu entwirren, und die konkreten Aktivitäten der Nonne jenseits des Nähens von Marienmänteln bleiben unterbelichtet. So erwähnt Schlünz zwar, dass ihre Konventsgründungen vom Anspruch getragen waren, sich in der Mädchenbildung engagieren zu wollen; wir erfahren jedoch kaum etwas darüber, inwieweit der Orden wirklich den Schritt vom rein kontemplativen zu einem tätigen Leben machte. Das erste Kapitel zu Claret erscheint zu sehr einer klerikalen Binnensicht verhaftet, in der das zu missionierende Volk praktisch nicht vorkommt. Schlünz erklärt zwar, dass Katalonien ein Hotspot der Karlistenkriege und der antiklerikalen Gewalt war, ignoriert aber, dass es sich zugleich um ein von sozialen Protesten erschüttertes Zentrum der Frühindustrialisierung handelte: Im Sommer 1835 gingen nicht nur Klöster in Flammen auf, sondern ebenso eine Fabrik, und schon in den 1840er Jahren formierte sich eine rührige Arbeiterbewegung. [1] Vermutlich reflektiert diese Leerstelle die Blindheit ihres Protagonisten für die irdischen Nöte des Volks, doch wäre gerade jene Blindheit einer expliziteren Thematisierung Wert gewesen: Sie manifestierte sich eben nicht erst angesichts der Unruhen von Loja 1861, die das letzte Kapitel kurz anspricht.
Besser gelingt es Schlünz im Kapitel zu Kuba, das sozioökonomische Setting von Clarets seelsorgerischen Bemühungen zu umreißen. Und besonders spannend liest sich das fünfte Kapitel: Hier kreuzen sich nicht nur die Wege von Claret und Sor Patrocinio; die Autorin beleuchtet überdies eindrücklich (auch mithilfe von Abbildungen) das Aufeinanderprallen zweier Propagandastrategien. Auf der einen Seite versuchten aufwändig inszenierte königliche Reisen das öffentliche Ansehen von Monarchie und Kirche zu stabilisieren; auf der anderen Seite spitzte sich in den 1860er Jahren eine Medienkampagne gegen Isabel II. und ihre klerikalen Verbündeten zu, die deren irreparable Diskreditierung in Teilen der Gesellschaft vor Augen führt. Obwohl das Lesevergnügen somit nicht durchweg ungetrübt ist, überwiegt am Ende doch klar der positive Eindruck. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch dazu beitragen wird, auch in der deutschsprachigen Forschung das noch immer relativ randständige Interesse am spanischen 19. Jahrhundert zu stimulieren.
Anmerkung:
[1] Vgl. Beate Althammer: Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830-1870, Bonn 2002.
Beate Althammer