Rezension über:

Elisabetta Bartoli / Cristiano Amendola / Valeria Giovanna Nitti et al. (a cura di): Le nuove frontiere del «dictamen». Studi, edizioni in corso e riflessioni metodologiche sull'epistolografia medievale (secc. XII-XV) (= mediEVI; 39), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2023, IX + 274 S., ISBN 978-88-9290-223-7, EUR 42,00
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Rezension von:
Matthias Thumser
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Thumser: Rezension von: Elisabetta Bartoli / Cristiano Amendola / Valeria Giovanna Nitti et al. (a cura di): Le nuove frontiere del «dictamen». Studi, edizioni in corso e riflessioni metodologiche sull'epistolografia medievale (secc. XII-XV), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/39079.html


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Elisabetta Bartoli / Cristiano Amendola / Valeria Giovanna Nitti et al. (a cura di): Le nuove frontiere del «dictamen»

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Neue Grenzen der Briefforschung ziehen will ein Aufsatzband mit 16 Beiträgen, die aus einer an der Universität Siena organisierten, digital veranstalteten Tagung im Juni 2021 resultieren. Diese Erweiterung des Raums, in dem sich die Erforschung der Ars dictaminis, der mittelalterlichen Briefstillehre, künftig bewegen soll, betrifft den Blick über die alten Zentren hinaus auf ganz Europa, neben den lateinischen nun auch die volkssprachlichen Texte und in besonderem Maß die digitale Edition - so die Herausgeberin Elisabetta Bartoli in ihrem Vorwort (VII-VIII). Um den Band zu strukturieren hat sie die zahlreichen Artikel auf zwei Sektionen verteilt, die eine mit eher allgemeinen Themen, die andere zu laufenden Editionsprojekten.

Am Beginn des ersten Teils äußert sich Francesco Stella in 21 Punkten zu Problemen, die sich erfahrungsgemäß bei der kritischen Edition von Briefliteratur ergeben können (3-18). Elisabetta Bartoli behandelt die Beispielsammlungen einiger Meister der Ars dictaminis im späten 11. und im 12. Jahrhundert und klassifiziert sie nach ihren Quellen (19-31). Nach dem Neuen in der Rhetorica novissima des Boncompagno da Signa sucht Paolo Garbini (33-45). Romana Brovia und Alessia Valenti präsentieren das Projekt ITINERA (Italian Trecento Intellectual Network and European Renaissance Advent), das in einer Datenbank die sozialen Beziehungen Petrarcas dokumentiert, wie sie vor allem in seinen Briefen erkennbar sind (69-83). Dass die Gender Studies bislang keinen Platz in der Briefforschung hatten, stellt Francesca Battista fest und entwickelt Methoden für entsprechende Analysen der theoretischen Artes dictandi (85-100). Cristiano Amendola untersucht volkssprachliche Exordiensammlungen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und konzentriert sich dabei auf die Werke des Bartolomeo di Benincà aus Ferrara (101-113).

Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes beziehen sich auf eine Reihe von laufenden Editionsprojekten, darunter zu dem einführenden Traktat der Aurea gemma des Henricus Francigena (Giorgia Rumeni; 117-122), der anonymen Summa Cognito (Valeria Giovanna Nitti; 123-138), den Dictamina rhetorica des Guido Faba (Michele Vescovo; 139-156), den Quadrige des Arseginus von Padua (Eduardo Serrano; 157-173), den Dictamina des Petrus von Prezza (Martina Pavoni; 207-221) und der Summa Thymonis (Florian Hartmann; 223-235).

Eine gewisse Inhomogenität der Beiträge ist offensichtlich, werden sie doch einzig durch das Medium Brief zusammengehalten. Fast ist man geneigt, dieses Arrangement als ein Sammelsurium, einen bunten Strauß zu begreifen. Fast, aber eben doch nicht ganz. Denn nicht erwähnt wurden bislang vier Aufsätze, die, verstreut über den Band, die Briefsammlung des Petrus de Vinea betreffen und zusammengenommen einen weiteren Schritt bei deren Erforschung bedeuten.

Grundlegende Informationen zur komplizierten Überlieferungsgeschichte bietet in gebündelter Form ein gemeinsamer Beitrag von Fulvio Delle Donne und Debora Riso (175-195). Diese Sammlung, deren Briefe nur teilweise von dem berühmten Stilisten in der sizilischen Kanzlei Kaiser Friedrichs II. stammen und sicher nicht von ihm zusammengestellt wurden, ist in ihren geordneten Formen rund 125mal überliefert und gilt somit als ein Bestseller des späteren Mittelalters. Nachdem die Forschung lange Zeit nur auf ungenügende Abdrucke der Frühen Neuzeit zurückgreifen konnte, stehen seit kurzem zwei kritische Editionen zur Verfügung, die auf verschiedenen Überlieferungsformen beruhen. 2014 wurde von einer italienischen Editorengruppe die sogenannte kleine sechsteilige Sammlung in den Druck gebracht, eine echte Summa dictaminis, die mit ihren zahlreichen Textzeugen als die Vulgatversion angesehen werden kann. [1] Debora Riso edierte 2024 die Handschrift Toledo 45-9, deren in lediglich fünf Büchern organisierte Briefe die ursprünglichste Textfassung aufweisen. [2] Diese Erkenntnis, die für das Verständnis der gesamten Briefsammlung von erheblicher Bedeutung ist, wird von den beiden Autoren anhand einiger Textbeispiele einsichtig gemacht. Den Archetyp des gesamten Überlieferungskomplexes betrachten sie als "in movimento". Er existierte ihrer Meinung nach nicht als Handschrift, sondern in Form von Kästen und Pergamentbündeln.

Aus der in zwölf Handschriften überlieferten, sogenannten großen sechsteiligen Sammlung, die keineswegs als ein geschlossener Überlieferungskomplex begriffen werden sollte, hat Edoardo D'Angelo zwei bemerkenswerte, bislang unedierte Dictamina in den Druck gebracht (197-206).

Benoît Grévin führt im Anschluss an seine fundamentale Monographie zur Weiterverwendung ("riuso") des Petrus de Vinea im späteren Mittelalter [3] eine ergänzende Untersuchung durch, wobei er wiederum die von ihm seinerzeit entwickelte Analysetechnik mittels Synopsen anwendet (47-67). Zunächst zieht er zwei Briefe von Alboino und Cangrande della Scala an den römisch-deutschen König Heinrich VII. aus der Zeit um 1310 heran, welche die Rezeption der Sammlung am Hof von Verona aufzeigen. Weiterhin behandelt er zwei Passagen aus der Polistoria des päpstlichen Skriptors Giovanni Cavallini von 1346/47, in denen trotz der generell papstfreundlichen Ausrichtung dieses Werks prominente Anleihen aus der Briefsammlung und aus den Konstitutionen von Melfi erscheinen. Den Abschluss bildet die Urkunde zur Erhebung von Gian Galeazzo Visconti zum Herzog von Mailand durch den römisch-deutschen König Wenzel im Mai 1395, für welche die böhmische Kanzlei einen umfassenden Rückgriff auf Petrus de Vinea vornahm, vermischt mit Anleihen aus den Variae Cassiodors.

Im Vorgriff auf seine Edition der volkssprachlichen Briefe Friedrichs II. und seiner Gegner [4] erörtert Giovanni Spalloni die Überlieferungssituation (237-252). Hierfür bietet er eine Liste der 21 von ihm ermittelten Briefe, die im ausgehenden 13. Jahrhundert ins Florentiner Italienisch übersetzt wurden, sowie eine weitere der 19 einschlägigen Textzeugen. Die Befunde einer ausführlichen Kollation erlauben bemerkenswerte Erkenntnisse. So ist die direkte Vorlage, die damals für die Übersetzung herangezogen wurde, offensichtlich verloren. Eine geordnete Handschrift des Petrus de Vinea scheidet aus. Stattdessen kann Spalloni drei Mischsammlungen mit Materien kaiserlicher, päpstlicher und anderer Provenienz benennen (Vat. lat. 4957, Turin H.III.38, Pal. lat. 953), in denen die Textgestalt der betreffenden lateinischen Briefe den italienischen Übersetzungen am nächsten kommt.

Die Erforschung der mittelalterlichen Briefkultur und der damit in enger Verbindung stehenden Ars dictaminis hat in den letzten 25 Jahren große Fortschritte erbracht. Dies zeigen nicht zuletzt die Beiträge dieses Bandes, der in besonderem Maß ein mittlerweile weit entwickeltes Methodeninstrumentarium erkennen lässt. Dass auch Aufsätze von jungen Wissenschaftlern aufgenommen wurden, spricht für die gegenwärtige Dynamik auf diesem Forschungsgebiet und lässt auf eine gewinnbringende Fortführung hoffen.


Anmerkungen:

[1] L'Epistolario di Pier della Vigna, unter der Koordination v. Edoardo D'Angelo hgg. v. Alessandro Boccia / Edoardo D'Angelo / Teofilo De Angelis / Fulvio Delle Donne / Roberto Gamberini (= Fonti e Studi, n. s.; 1), Soveria Mannelli 2014.

[2] Pier della Vigna, Epistole in 5 libri. Edizione critica della più antica raccolta sistematica, hg. v. Debora Riso, mit einer Einleitung v. Fulio Delle Donne (= Quaderni di Leukanikà; 24), Potenza 2024.

[3] Benoît Grévin: Rhétorique du pouvoir médiéval. Les "Lettres" de Pierre de la Vigne et la formation du langage politique européen (XIIIe-XVe siècle) (= Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome; 339), Rom 2008.

[4] Giovanni Spalloni (a cura di): I volgarizzamenti fiorentini delle lettere di Federico II e dei suoi avversari (= Testi e culture in Europa; 46), Pisa 2024.

Matthias Thumser