Julia F. Irwin: Catastrophic Diplomacy. US Foreign Disaster Assistance in the American Century, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2024, XVII + 359 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-1-4696-7623-4, USD 99,00
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Humanitäre Hilfe und damit zusammenhängend, entsprechende Hilfsorganisationen, und hier vornehmlich das Rote Kreuz, spielten seit dem 19. Jahrhundert eine immer bedeutendere Rolle, die in den letzten Jahrzehnten auch in den Geschichtswissenschaften eine stärkere Beachtung gefunden hat. Das gilt vor allem, wenn man sie nicht nur als Geschichte der Einzelfälle oder Hilfsorganisationen betrachtet, sondern als zentralen Teil etwa der Internationalen Geschichte anerkennt. Julia Irwin, derzeit an der Louisiana State University lehrend, hat bereits 2013 eine Geschichte des US Roten Kreuzes vorgelegt [1] und damals den Fokus auf diese eine Institution gerichtet. Nun nimmt sie, gestützt auf umfassendes Quellenstudium, die gesamte US-Politik in den Blick.
Die Katastrophenhilfe, auf die sich die Autorin beschränkt und die sie nur gelegentlich mit anderen humanitären Fragen verknüpft, bezog sich im Kern auf Erdbeben, Überflutungen und Vulkanausbrüche also, nach damaligem Verständnis, auf Naturkatastrophen. Irwin stützt sich für einen beachtlich langen Zeitraum - fast für das ganze 20. Jahrhundert - bis in die 1970er Jahre hinein auf diese Annahme. Mit knappem Vorlauf einer Naturkatastrophe 1812 in Venezuela zeigt sie über das 19. Jahrhundert, dass sich anlässlich eines Vulkanausbruchs auf der französischen Insel Martinique 1902 zu Zeiten von Theodore Roosevelt Muster und Institutionen staatlichen Handelns ausbildeten. Im Kern steht also der Regierungsapparat, zu dem sich in wachsender Staatlichkeit der USA und zunehmenden internationalen Engagements der Republik drei Institutionen entwickelten: das Militär, das State Department und das American Red Cross (ARC). Das ARC, eigentlich eine von zivilgesellschaftlichem Engagement und ebensolcher Finanzierung getragene Organisation, bildete durchgehend eine der drei Säulen von Regierungspolitik. Das war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der US-Präsident hier auch Ehrenpräsident war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit US Aid eine umfassendere staatliche Koordinierungsstelle geschaffen, die dann breiter auch auf Strukturreformen und dauerhafte Hilfe setzte.
Es geht Irwin im Kern darum, die Katastrophenhilfe als zunehmend bedeutender werdenden Kern staatlichen Handelns darzulegen, nicht zuletzt als andere oder freundlichere Seite gegenüber dem US-Imperialismus und kritisch zu beleuchtender "Good Neighbor Policy". Die Autorin hat wohl, in Landkarten nachgewiesen, alle relevanten, viele hunderte Fälle abgearbeitet, geht bei exemplarischem Vorgehen aber primär auf die sich wandelnden Organisationsstrukturen ein. Dabei arbeitet sie das oft überragende und schnelle humanitäre Element heraus, zeigt, wie zunächst vor allem die Navy, seit den 1920er Jahren auch zunehmend die Air Force, in der Lage war, schnell materielle Hilfe ebenso wie Personal in Katastrophengebiete zu senden. Politische oder (geo-)strategische Gesichtspunkte, geografische Nähe - zumal in der Karibik oder sonst auf dem Doppelkontinent - spielten hier allerdings ebenfalls eine wichtige Rolle.
In der Regel postulierte man, dass die Regierungen in den jeweiligen Katastrophengebieten selbst die Verantwortung zur Bewältigung der Katastrophen trugen. Das konnte bisweilen zu Konflikten mit der Souveränität der betroffenen Staaten führen, weil Washington effizienter handelte. Je nach Ausprägung der oft schwachen Leistungsfähigkeit regionaler Herrschaft übernahmen US-Vertreter vor Ort teils aktiv Verantwortung bis hin zu polizeilichen Maßnahmen. Gleichwohl vermeidet Irwin den Begriff der "humanitarian intervention" (11) als ein zu sehr aus der Sicht der Metropole geprägtes Anliegen.
Mehrfach hebt sie hervor, dass es ein Hauptanliegen von US-Hilfe war, möglichst schnell, nach Wochen oder wenigen Monaten, das betroffene Gebiet wieder zu verlassen. Dabei spielte häufig das Argument eine Rolle, man wolle die Gebiete nicht verwöhnen. Auch offener Rassismus oder zumindest Überlegenheitsgefühle spielten gerade in der Berichterstattung aus den Katastrophengebieten nach Washington eine große Rolle.
Die amerikanischen Hilfsaktionen in oder nach den beiden Weltkriegen hatten auch ganz Anderes als Naturkatastrophen im Blick und sind so nicht Irwins Thema. Eine der spannendsten Geschichten ist die Frage, wie die USA nach 1945 mit Katastrophen in der kommunistischen Welt umgingen. Sollte man dem Erzfeind helfen - und durch das Angebot von Katastrophenhilfe Sympathiewerbung bei deren Bevölkerung oder sonst in der Welt machen? Mitte der 1950er Jahre halfen die USA gern bei Überschwemmungen in Ostmitteleuropa. Ob man China Anfang der 1960er Jahre Hilfe anbieten solle, war umstritten. Jedenfalls verbot der Kongress 1962 längerfristige Hilfe an kommunistische Länder, wie anhand des Erdbebens von Skopje in Jugoslawien gezeigt wird. Katastrophenhilfe erhielt in diesen Jahren eine weitere Bedeutung: Sie wurde zum Faktor, landwirtschaftliche Überproduktion der USA günstig loszuwerden; auch hier wurde der Zusammenhang mit Weltmachtpolitik im Allgemeinen deutlich.
Wegen der tatsächlich zwischen Staat und Zivilgesellschaft angesiedelten Rolle des ARC hätte man sich mehr Aussagen über dessen Zusammenarbeit, aber auch Konkurrenz mit den in den USA stark religiös und damit oft humanitär eingestellten weiteren Hilfsorganisationen gewünscht. Das hätte jedoch einen ganz anderen Fokus bedeutet, der nicht der Irwins ist. Ebenso wird die Rolle der USA in und das Verhältnis zu den diversen UN-Organisationen in denen gerade die US-Regierung starken Einfluss ausübte, nur ganz am Rande gestreift.
Die Perzeption eines unterschiedlichen Entwicklungsstandes der Welt und zumal von Katastrophenländern bildete eine prägende Leitlinie bis weit in die 1960er Jahre hinein. Wie sehr sich diese Einsicht in das Erfordernis langfristigen Engagements etwa im Zuge des Modernisierungsparadigmas und der aufkommenden Entwicklungspolitik änderte, ist ebenfalls nicht Thema dieser Studie. Wie "humanitarian relief and development assistance" als "intwined relationship" zu sehen seien, müsse weiter durchdacht werden, meint die Autorin (275). Der Rezensent hat den Eindruck, dass es dazu in der breit gefächerten Umweltgeschichte auch der USA schon ziemlich gut entwickelte Ergebnisse gibt.
Irwin schildert einleuchtend die sich entfaltenden und konkurrierenden weiteren Institutionen staatlichen oder halbstaatlichen Handelns in US-amerikanischer Katastrophenhilfe. Etwa Mitte der 1970er Jahre hätten diese in einem umfangreichen, ausdifferenzierten Regierungsapparat ihre seither gültigen Formen gefunden. Irwin selbst bleibt jedoch beim engeren Thema der Katstrophenhilfe, schließt ihre Studie nur mit einem Ausblick auf die Folgen des Klimawandels, also der menschengemachten Katastrophen, die neue Herausforderungen brächten. Auch darüber gibt es schon gute Forschungen; aber vielleicht ist das ja ein Thema des nächsten Buches der Verfasserin. Insgesamt ist ein großes Verdienst von Julia Irwin, die Verbindung von Hilfsbereitschaft und geleisteter staatlicher Hilfe als Teil der nationalen Interessenpolitik über das 20. Jahrhundert im Wandel umfassend informiert und klar argumentierend an markanten Beispielen nachgegangen zu sein.
Anmerkung:
[1] Julia F. Irwin, Making the World Safe. The American Red Cross and the Nation's Humanitarian Awakening, New York u.a. 2013.
Jost Dülffer