Richard N. Langlois: The Corporation and the Twentieth Century. The History of American Business Enterprise (= The Princeton Economic History of the Western World), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2023, xii + 799 S., ISBN 978-0-691-24698-7, USD 50,00
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The Corporation and the Twentieth Century von Richard N. Langlois von der Universität Connecticut ist in vielerlei Hinsicht eine Meisterleistung. Der Autor bietet nicht nur einen theoretisch fundierten und empirisch enorm detailreichen Überblick über die Entwicklung US-amerikanischer Großunternehmen in einem langen 20. Jahrhundert. Er bettet seine Unternehmensgeschichte darüber hinaus eng in politik-, sozial- und kulturhistorische Entwicklungsprozesse und macht auch vor nationalstaatlichen Grenzen nicht halt, indem er globale Verflechtungen der Unternehmen in den Blick nimmt.
Als Ökonom nimmt Langlois Geschichte sehr ernst. Damit ist er in guter Gesellschaft, hat sich im Fach Wirtschaftswissenschaft doch eine Perspektivveränderung ergeben, die sich auch in der Vergabe der letzten Nobelpreise zeigt (u.a. Daron Acemoglu 2024, Claudia Goldin 2023). Langlois' Grundanliegen ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von Alfred Chandler Jr., einem der einflussreichsten Unternehmenshistoriker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dessen 1977 erschienenes Werk "The Visible Hand" [1] dient Langlois als theoretischer Bezugs- und empirischer Referenzpunkt über das ganze Buch hinweg; dabei geht es beiden darum, die zentralisierte Organisationsform der Großunternehmen für das 20. Jahrhundert zu erklären. Im Unterschied zu Chandler, der die überlegene Effizienz und Kompetenz professionellen Managements hervorhebt, zielt Langlois auf historische Einbettung ab und argumentiert "the history of organizational forms [...] cannot be understood without holding simultaneously in view the economic, institutional, and even intellectual history of American enterprise" (X). Ein konzeptioneller Bezug zum wirtschaftssoziologischen Konzept der Einbettung ökonomischer Akteure bleibt allerdings aus.
Aus dieser kritischen Auseinandersetzung mit Chandler entwickelt Langlois in der konzisen Einleitung ein breites Spektrum historischer Kontextbedingungen für den Aufstieg managergeführter Großunternehmen im 20. Jahrhundert. Er greift hierfür auf institutionentheoretische Ansätze zurück. Die organisationstheoretisch relevante Frage von Koordinationsmechanismen zwischen Markt und organisationaler Internalisierung adressiert er in Anlehnung an Ronald Coase. Dabei versucht Langlois zu erklären, warum es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer schrittweisen Auflösung zentralisierter Organisationsstrukturen kam, denn "market-supporting institutions, including financial markets, had developed to such an extent that they could underpin a far more decentralized way of creating and administering even highthroughput production and distribution" (6).
Der historisch-empirische Teil des Buchs ist in acht Kapiteln chronologisch strukturiert. Ausgehend von einem kurzen historischen Abriss über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (Kapitel 2) folgt Langlois überwiegend der etablierten Periodisierung US-amerikanischer Geschichte. Für die erste Jahrhunderthälfte schließen sich der Progressive Era (Kapitel 3) zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Erste Weltkrieg (Kapitel 4 The Seminal Catastrophe) und die 1920er Jahre (Kapitel 5 Interlude) an. Weltwirtschaftskrise und New Deal bezeichnet Langlois als The Real Catastrophe (Kapitel 6) und beurteilt dabei die politischen Maßnahmen des New Deal in weitgehender Übereinstimmung mit der neueren wirtschaftshistorischen Forschung skeptisch (187). Kapitel 7 (Arsenal Again) zeichnet den Übergang zur Kriegswirtschaft als chaotischen Prozess nach, der schlussendlich aber enorm erfolgreich im Aufbau der Produktion war. Dem Kriegsende schließt Langlois Kapitel 8 (The Corporate Era) als Blütezeit von Wirtschaftswachstum und Hochphase des managergeführten Großunternehmens an. Deren Ende war dem Autor zufolge allerdings bereits angebrochen, als Chandler 1977 "The Visible Hand" publizierte (Kapitel 9 The Undoing). Stagflation, Globalisierung und technischer Wandel bildeten dabei aus Sicht von Langlois zentrale Herausforderungen. Statt einer systematischen Zusammenfassung bietet Langlois im Epilog einen Ausblick auf die unmittelbare Vergangenheit und Gegenwart, indem er Technologiekonzerne (wie Apple, Microsoft, Google, Amazon, Uber) in den Vordergrund stellt, deren Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen eine neue Phase schöpferischer Zerstörung einläuteten. Im Ergebnis argumentiert Langlois plausibel, dass die Ära der zentralisierten Großkonzerne am Ende des 20. Jahrhunderts nun zu Ende war.
Langlois adressiert ein breites Panorama wirtschaftshistorischer Themen der politischen Ökonomie. Dazu zählen populistische Bewegungen, soziale Bewegungen religiöser Akteure, Migration, Wissenschaft, Rassismus, Sozialismus und das Rechtssystem. Der Autor gibt sich dabei skeptisch gegenüber der Effektivität staatlicher Intervention und betont vielmehr die Anreize monetärer Politik für Wirtschaftswachstum. So hält er die Auswirkungen einer aktiven Wirtschaftspolitik à la John Maynard Keynes in der Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg für maßlos übertrieben. Die beeindruckende Analyse ist dicht und gespickt mit konzisen theoretischen Kurzzusammenfassungen wie beispielsweise der Überblick über die theoretischen Grundlagen des Keynesianismus.
In zweierlei Hinsicht ist das Buch allerdings auch eine verpasste Gelegenheit. Erstens ist Langlois' intensive Auseinandersetzung mit Chandler zu schematisch. Der Autor hätte mehr an neuere theoretische Ansätze und Forschungsperspektiven im Bereich der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte anknüpfen sollen. Auf die Diskussion zu "New Histories of Capitalism [2] und selbst auf Jonathan Levys "Ages of American Capitalism" [3] wird überhaupt nicht verwiesen. So bleibt es im Wesentlichen eine konventionelle Erzählung von Großunternehmern und deren Managern, freilich analytisch auf höchstem Niveau und eingebettet in breitere historische Kontexte. Zweitens hätte Langlois noch viel stärker auf die allgemeine Historiografie der US-Geschichte eingehen können. Die neuere Großerzählung von Jill Lepore, die wirtschafts- und unternehmenshistorische Themen nahezu völlig ausblendet, wird beispielsweise nicht erwähnt. [4] Hier hätte Langlois mit seiner meisterhaften Analyse einen wesentlichen Beitrag auch für die allgemeine geschichtswissenschaftliche Diskussion leisten können, denn - wie er zurecht zeigt - ist eine US-Geschichte des 20. Jahrhunderts ohne Großkonzerne nicht umfassend zu erzählen.
Das Buch ist auch für wirtschaftshistorische Laien sehr gut lesbar. Es bietet dabei eine Fülle empirischer Details und ist durchweg als historisches Narrativ aufgebaut, das eine Entwicklungsgeschichte aufzeigt. Mehr und aussagekräftigere Zwischenüberschriften hätten die Handhabbarkeit dieses umfangreichen Buchs erhöhen können, das sich in Ausschnitten auch hervorragend als Seminarlektüre für Lehrveranstaltungen zur US-Geschichte im "langen" 20. Jahrhundert eignet.
Anmerkungen:
[1] Alfred D. Chandler Jr.: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge/Mass. 1977.
[2] Sven Beckert / Christine Desan (eds.): American Capitalism. New Histories, New York 2018.
[3] Jonathan Levy: Ages of American Capitalism. A History of the United States, New York 2021.
[4] Vgl. Jill Lepore: These truths. A history of the United States, New York / London 2018.
Martin Lutz