Rezension über:

Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1970. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 320 S., 7 Abb., ISBN 978-3-525-30213-2, EUR 30,00
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Rezension von:
Stefan Donth
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Donth: Rezension von: Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1970. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/38723.html


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Ronny Heidenreich (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1970

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Anfang der 1950er Jahre wurden im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die ersten geheimen Berichte an die SED-Führung verfasst. Bis 1989 hielt diese Berichterstattung an. Das Stasiunterlagenarchiv ediert diesen Aktenbestand mit großer Umsicht und hat nun den Band für das Jahr 1970 vorgelegt: Online sind 162 mit einer Volltextrecherche erschlossene Dokumente für die Forschung nutzbar. Die Druckausgabe enthält eine Auswahl dieser Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS.

Zwei Themenfelder prägten 1970 die Berichterstattung des MfS: Zum einen nahmen die beiden Gipfeltreffen in Erfurt und in Kassel zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph breiten Raum ein. Zum anderen verstärkten sich die Richtungskämpfe in der SED-Führung. Der alternde Partei- und Staatschef Walter Ulbricht und sein Konkurrent Erich Honecker rangen um die Vorherrschaft - nicht nur bei der Ausgestaltung des Verhältnisses der DDR zur Bundesrepublik Deutschland -sondern auch in der Innen- und Wirtschaftspolitik.

SED und MfS fiel es zunächst schwer, den von der sowjetischen Führungsmacht eingeschlagenen neuen Kurs in der Entspannungspolitik Richtung Westen nachzuvollziehen, der 1970 in den Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion mündete. Auch in der deutsch-deutschen Annäherung erblickte die ZAIG eine Gefahr für die Stabilität der SED-Herrschaft. Die Geheimpolizei informierte die SED-Spitze, dass nun zahlreiche Einwohner der DDR hofften, Besuche und Reisen nach Westdeutschland würden großzügiger genehmigt. Zudem habe der Besuch Brandts in Erfurt in der Bevölkerung große "politisch-ideologische Unklarheiten" hervorgerufen. Kritisch beobachtete die ZAIG, dass "vereinzelt [...] die Reden Brandts [...] zur Grundlage der eigenen Meinungsbildung gemacht wurden" (98). Aus Sicht des MfS nahm die politisch-ideologische Diversion zu, gegen die die Geheimpolizei nun umso entschlossener vorgehen müsste. Dieses Argumentationsmuster bildete eine wichtige Begründung für die personelle Aufstockung der Geheimpolizei in den 1970er und 1980er Jahren.

In den MfS-Berichten wird - von den Stasioffizieren wohl unbeabsichtigt - erkennbar, in welch starkem Maße die SED-Führung NS-Gedenkstätten für eigene Zwecke instrumentalisierte. Als Brandt im Umfeld seines Treffens mit Stoph am 19. März 1970 auch die Gedenkstätte Buchenwald besuchte, setzte sich die DDR-Führung gezielt über den Wunsch des Bundeskanzlers hinweg und ließ seinen Kranz von NVA-Soldaten ablegen. Die SED nutzte das militärische Zeremoniell, um die von ihr geforderte Gleichberechtigung der beiden deutschen Staaten symbolisch herauszustellen. Dazu ließ sie auch die "Hymne der BRD" von einer NVA-Ehrenformation intonieren - ein Affront, der sogar den Unmut bei den eigenen Funktionären hervorrief, weil unter den Klängen des Deutschlandliedes "KZ-Häftlinge in Buchenwald gefoltert und ermordet worden seien", wie die ZAIG an die MfS-Spitze weitergab (135).

Gleichzeitig wird aus den Dokumenten ersichtlich, dass SED und Stasi auch über NS-Täter im Sicherheitsapparat hinwegsahen, wenn es die vermeintlich antifaschistische Staffage des "Arbeiter- und Bauern-Staates" zu schützen galt: Gegen einen hochrangigen Politoffizier der Transportpolizei, der seine Mitwirkung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Angehöriger einer "Faschistischen Selbstschutzorganisation" während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion verschwiegen hatte, wurde zwar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Dieses endete jedoch ohne eine gerichtliche Verurteilung des Betroffenen. Wie das MfS an Honecker meldete, habe sich der Beschuldigte 1942/43 lediglich an der "Festnahme von zwei und an der Misshandlung von einem Einwohner" beteiligt, nicht aber an "Verbrechen mit Massencharakter" (139). Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein, da zwar der "Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt war", "jedoch keine schwerwiegenden Folgen verursacht wurden" (140). Der Offizier wurde lediglich aus der Volkspolizei "fristlos entlassen", aber "entsprechend seinen Fähigkeiten wieder in das gesellschaftliche Leben eingegliedert" (140).

Ein weiterer Schwerpunkt der MfS-Berichterstattung lag auf den ökonomischen Problemen der DDR. Ulbrichts Wirtschaftspolitik führte im gesamten Land zu Störungen in zahlreichen Betrieben, zu Produktionsausfällen und Versorgungsengpässe. Die ZAIG thematisierte detailliert die Schwierigkeiten und warnte führende SED-Funktionäre: Immer häufiger auftretende Mängel bei der Bereitstellung von Lebensmitteln und Konsumgütern ließen in der Bevölkerung Zweifel über die Stärke der DDR aufkommen. Hinzu kam, dass Preiserhöhungen die Kritik großer Teile der Bevölkerung am Wirtschaftskurs der SED befeuerten.

Auch von der Situation im Gesundheitswesen zeichnete die ZAIG ein düsteres Bild: Überbelegte Krankenhäuser, fehlende Medikamente und eine unzureichende technische Ausstattung, die unter "vergleichbaren internationalen Werten" lag (259), gefährdeten die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Das spürten auch die Spitzenkader im Partei- und Staatsapparat, weil im Regierungskrankenhaus eine Heizanlage nicht gebaut werden konnte. In ihrem Bericht musste die Stasi sogar einräumen, dass nur die konfessionellen Einrichtungen positiv herausstachen.

Als Ende 1970 aufgrund der schlechten Versorgungslage in Polen Unruhen ausbrachen, befürchtete die ZAIG, dass auch in der DDR die Bevölkerung aufbegehren könnte. Davor warnte das MfS die SED-Spitze - und trug damit in der eigenen Wahrnehmung dazu bei, ähnliche Ereignisse in der DDR zu verhindern.

Es ist das Verdienst des Bearbeiters Ronny Heidenreichs, dass die Dokumente nicht nur ediert und im aktuellen Forschungsstand verortet werden. Darüber hinaus arbeitet er kenntnisreich heraus, wie die Geheimpolizei ihre Berichterstattung nutzte, um die eigene Bedeutung als Herrschaftsinstrument gegenüber den SED-Spitzenkadern herauszustreichen. Als sich abzeichnete, dass Honecker seinen Kontrahenten Ulbricht verdrängen könnte, schlug sich Staatssicherheitsminister Erich Mielke an die Seite des neuen starken Manns. Heidenreich hat auch die Verteiler der ZAIG-Berichte untersucht und nachgewiesen, dass Ulbricht nach und nach immer weniger Informationen des MfS erhielt. Stattdessen wurden dem Honecker-Lager Argumente an die Hand gegeben, mit denen dieses die Wirtschafts- und Deutschlandpolitik des greisen SED-Chefs gezielt angreifen konnte. Heidenreichs Band ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker - mit großem Gewinn für alle, die an DDR-Geschichte interessiert sind.

Stefan Donth