Jörg Arnold: The British Miner in the Age of De-Industrialization. A Political and Cultural History, Oxford: Oxford University Press 2024, XX + 328 S., ISBN 978-0-19-888769-0, GBP 35,00
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Barbara Tuchmans berühmte Aufforderung, die Geschichte zu schreiben, "während sie noch qualmt", ist vielleicht etwas totzitiert. [1] Im Fall von Jörg Arnolds Studie von 2024 bietet sich der Hinweis aber an, dass im Jahr ihres Erscheinens in Großbritannien das letzte Kohlekraftwerk stillgelegt wurde. Die Steinkohleförderung im Untertagebau endete bereits 2015. Während des großen Bergarbeiterstreiks von 1984/85 schwante den Gewerkschaftern der National Union of Mineworkers (NUM) zwar bereits, dass die vom National Coal Board (NCB) angekündigte Schließung von 20 Zechen nur der Vorbote eines erheblich radikaleren Kahlschlags sein würde. Doch weder sie noch die marktradikalsten ihrer Gegner in der Regierung von Margaret Thatcher hätten sich damals vorstellen können, dass die so geschichtsträchtige britische Kohleindustrie vier Jahrzehnte später nur noch Geschichte sein würde. Nichts scheint rückblickend naheliegender als ein lineares Narrativ des Niedergangs. Doch den Mitlebenden hat sich die Sache 'damals' durchaus anders dargestellt.
Die Ergebnisoffenheit des historischen Prozesses leitet explizit auch Arnold in seinem Versuch, den bereits mythisch gewordenen great miners' strike von 1984/85 in einen längeren historischen Kontext einzuordnen. Gegen das decline-Narrativ, das den Steinkohlebergbau als Exempel des allgemeinen Niedergangs der britischen Schwerindustrie versteht, arbeitet er detailliert und mit reichlich statistischem Material die kurvenreiche und insgesamt antizyklische Entwicklung dieses Industriesektors von den 1960er bis in die 1990er Jahre heraus. Darüber hinaus interessiert den aus Deutschland stammenden Historiker von der University of Nottingham der Platz der miners in der britischen Nationalmythologie. Mithilfe von Raymond Williams' Konzept der structures of feeling will er analysieren, wie die Figur des miner in den sozialen Imaginationen der Briten über Jahrzehnte mit wechselnden kulturellen Bedeutungen aufgeladen wurde. Zugleich will Arnold das Spannungsverhältnis dieser sozialen Imaginationen zu den Selbstbildern der Bergleute ausloten. All dies tut er in acht Kapiteln, aufgeteilt auf zwei Abschnitte, deren Titel bereits den roten Faden seiner Erzählung über das Schicksal der Bergleute enthalten: "From Loser to Winner", "...and back again".
In den modernisierungseuphorischen 1960er Jahren galt der Steinkohlebergbau in Großbritannien bereits als Industrie im Niedergang, obwohl Steinkohle 1967 immer noch 58,7 Prozent des britischen Energieverbrauchs und 73,7 Prozent der Stromerzeugung ausmachte. Als Relikt aus vortechnologischer Zeit wurde die Kohle auch von Harold Wilsons Labour-Regierung betrachtet, die 1967 einen Plan für die langfristige Reduzierung unprofitabler Zechen vorlegte. Die Zahl der Bergleute, die den Zechen freiwillig den Rücken kehrten und bessere Jobs etwa in der Automobilindustrie annahmen, überstieg bei weitem die der freigesetzten. Zugleich war das Gefühl weit verbreitet, dass die Bergleute in der Vergangenheit nicht die gesellschaftliche Anerkennung bekommen hatten, die sie für ihren körperlich aufopferungsvollen Beitrag zum Wohlstand der Nation verdienten. Eine nostalgische Grundsympathie prägte die öffentliche Rezeption des Streiks von 1972, dem ersten offiziellen Bergarbeiterstreik seit 1926. Der Erfolg dieses Streiks, erzielt auch mit militanten Praktiken wie der Blockade von Treibstofflagern - etwa in der sofort mythologisierten Battle of Saltley Gate -, motivierte die NUM in der Tarifrunde 1973/74 eine Lohnsteigerung von 35 Prozent zu erzwingen. Tory-Premierminister Edward Heath suchte vorgezogene Neuwahlen unter dem Slogan Who governs Britain? - und bekam die Antwort der Wählerinnen und Wähler in Form seiner Abwahl. Von nun an wurden die miners nicht mehr bemitleidet, sondern bewundert oder gar gefürchtet.
Ironischerweise hatte gerade die Heath-Regierung eine Trendumkehr für die Kohleindustrie bewirkt, indem sie vor dem Hintergrund steigender Ölpreise massiv in die Modernisierung und Expansion des Bergbaus investierte. In den 1970er Jahren galt der Steinkohlebergbau wieder als Industrie mit langfristiger Zukunft und angesichts überdurchschnittlicher Industriearbeiterlöhne auch als attraktiver Arbeitsplatz. Das NCB warb junge Männer gezielt mit dem coolen Image des Bergarbeiterberufs an, der ausweislich der Comic-Bilder in den Werbebroschüren schnelle Motorräder und Erfolg bei Frauen versprach. Der Aufschwung der Branche überdauerte noch den dramatischen Einbruch der übrigen Schwerindustrie in der Rezession der frühen 1980er Jahre. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war laut Arnolds Erzählung im Jahr 1981 erreicht, als selbst die Regierung Thatcher vor der Streikandrohung der NUM einknickte, die vermeintliche Iron Lady sich also in der Realität als "paper doll" erwies, wie gewerkschaftsnahe Parlamentsabgeordnete frohlockten (136).
Doch der Höhepunkt bedeutete zugleich die Peripetie, denn spätestens nun glaubten die Gewerkschaftsführer offenbar selbst an die politische Macht, die den miners von außen zugeschrieben wurde. NUM-Präsident Arthur Scargill, Veteran von Saltley Gate, schickte die Bergleute 1984 mit dem expliziten Ziel eines Sturzes der Thatcher-Regierung in den großen Streik. Thatcher ihrerseits erklärte die Streikführer (entgegen populärer Mythen aber nicht die Bergleute per se) zum "enemy within". (179) Nach 51 Wochen Arbeitskampf musste sich die NUM im März 1985 geschlagen geben. Bereits zeitgenössisch wurde dies als "watershed-moment" (194) betrachtet. Die Gewerkschaftsmacht war gebrochen, die Belegschaften waren demoralisiert. Das eigentliche Ende der Kohleindustrie leitete indes erst die Privatisierung des britischen Energiesektors in den frühen 1990er Jahren ein. Als Nachzügler der Deindustrialisierung gab es für die arbeitslos gewordenen Bergleute nun kaum noch Jobalternativen in anderen Industriebranchen.
Arnolds größte epistemologische Herausforderung ist es, neben den Fremdbildern auch die Selbstbilder der Bergleute zu objektivieren. Denn, wie er selbst betont, liegen fast allen Quellen, in denen Bergleute zu Wort kommen, starke Vorannahmen über die wahre Natur der miners zugrunde. Das gilt nicht zuletzt für die seit den 1950er Jahren engmaschige sozialwissenschaftliche Beforschung der sogenannten coalfield communities. Marxistische Intellektuelle wie E.P. Thompson idealisierten die miners in den 1970er Jahren als Avantgarde der Arbeiterklasse. Kinofilme der 1990er Jahre wie Billy Elliot portraitierten die Bergarbeitergemeinden wiederum in einem Maße als verarmt, als hätte es die Lebensstandardsteigerung der 1970er Jahre nie gegeben. Während so alle Seiten an einem Bild der miners als special arbeiteten, sahen sich diese, wie Arnold aus den wenigen authentischen Äußerungen in Briefen, Essaywettbewerben und Oral-History-Interviews herausarbeitet, vor allem als "ordinary workers" (117), die am allgemeinen Wohlstand der Nachkriegsjahre partizipieren wollten. Gegen die Erzählungen vom gemeinschaftsstiftenden Effekt des Streiks von 1984/85, zeigt er, wie umstritten der ohne Urabstimmung gestartete Streik bei den Bergleuten war - und wie zielgerichtet die Stimmen der als "scabs" geschmähten "working miners" (204) aus der Erinnerungskultur getilgt wurden. Überaus erhellend ist auch zu lesen, wie sowohl die NUM-Führung als auch die Thatcher-Regierung den Streik von 1984/85 als Re-Inszenierung der Konfrontationen von 1972/74 - wenn nicht gar des Generalstreiks von 1926 - anlegten, obwohl 60 Prozent der betroffenen Bergleute an diesen früheren Arbeitskämpfen gar nicht teilgenommen hatten.
Historische Mythen spielten allseits eine große Rolle für die (positive oder negative) Romantisierung der miners. Solche Romantisierungen konsequent aufzubrechen, ist vielleicht der wichtigste Ertrag von Arnolds Studie, die sowohl im Quellenzugriff als auch in den großen Linien der Argumentation restlos überzeugt. Geduldig sieht man daher über nicht wenige Redundanzen hinweg, die das Produkt unnötig repetitiver Zusammenfassungen am Beginn und am Ende jedes einzelnen Kapitels sind.
Anmerkung:
[1] Barbara Tuchman: Wann ereignet sich Geschichte?, in: In Geschichte denken. Essays, hg. von Barbara Tuchman, Düsseldorf 1982, 31.
Nikolai Wehrs