Manuela Rienks: Ausverkauft. Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik Deutschland (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 143), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, VIII + 531 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-114135-0, EUR 84,95
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Jürgen Kocka bemerkte einmal, dass die Geschichte der Arbeit häufig unstrukturiert sei - unterschiedliche Branchen und Beschäftigungsarten, Zugehörigkeitsempfindungen und soziale Situierungen sind zu berücksichtigen. Manuela Rienks stellt sich in ihrer Münchner Dissertation den Arbeitswelten von Verkäuferinnen in der Bundesrepublik. Um das vielschichtige Feld des Einzelhandels zu strukturieren, verfolgt Rienks einen geschlechtergeschichtlichen Zugriff. Unter welchen Bedingungen erfolgte der Verkauf, und was lässt sich über die soziale Positionierung und die damit verbundene Geschlechterordnung sagen? Ihr wesentlicher Quellenkorpus sind die Bestände von sechs Unternehmen der Textil- und Lebensmittelbranche, vorrangig aus dem süddeutschen Raum, die sie für Tiefenbohrungen nutzt. Ebenso sozialwissenschaftliche, statistische und gewerkschaftliche Quellen, die sie wie die Forschungsliteratur in einer beeindruckenden Breite auswertet. Die Arbeit deckt den Zeitraum zwischen den 1950er und den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik ab.
Die Arbeit, so stellt Rienks in der Einleitung fest, ist eine "verknüpfende Betrachtungsweise an Arbeits- und Geschlechtergeschichte, aber mit kultur- und sozialgeschichtlichen Perspektiven" (19). Für soziale Ungleichheit sind Arbeit und Geschlecht zentrale Kategorien, wie Rienks vielfach anschaulich belegt.
Im ersten Hauptkapitel fragt Rienks nach der Sozialfigur der Verkäuferin. Das Bild von "Tante Emma", mit einem kleinen Verkaufsraum und sozialer Nähe zu Kund:innen, war eine schon seit den 1960er Jahren stark zurückgehende Erscheinungsform weiblicher Verkaufstätigkeit. Vielmehr dominierten mittlere und größere Verkaufsstätten bzw. Ketten. Rienks richtet den Blick auf die Sozialfigur anhand verschiedener Akteursgruppen. Aus betrieblichen Unterlagen kann sie Selbstverständigungen von weiblichen Beschäftigten gewinnen, blickt auf Thematisierungen des Verkaufspersonals durch die Sozialwissenschaft, den Gewerkschaften HBV und DAG, den Unternehmen und der Entlohnung. Während die Selbstwahrnehmung, Gewerkschaften und die Sozialwissenschaft sich seit den 1970er wandelten und stärker die Geschlechterungleichheit thematisierten, war bei den Unternehmen und der Entlohnung Kontinuität zu beobachten. Weibliche Beschäftigte wurden schlechter bezahlt, als Präsentationsfläche der Unternehmen hinsichtlich ihres Auftretens ausgerichtet und in der Betriebshierarchie tiefer angesiedelt.
Dies demonstriert Rienks im zweiten Kapitel eindringlich. Hier kann sie an den betrieblichen Praktiken das "doing gender" bzw. "doing masculinity" vielfach aus den Unternehmensquellen belegen. In den Ausbildungsgängen größerer Unternehmen wurde systematisch nach Männern für Führungspositionen geschaut, Frauen hingegen auf verkaufende und kassierende, meist helfende Tätigkeiten vorbereitet. Diese Geschlechterhierarchie fand sich auch in Stellenanzeigen und internen Schulungsmaterialien. Eine Ausnahme bildete zeitweilig die Lebensmittelkette Gaissmaier, bei der Frauen seit den 1950er häufiger auch Filialleiterinnen waren, ab Ende der 1960er Jahre wurden aber auch bei Gaissmaier zunehmend Männer auf diese Positionen gebracht. Erstaunlich ist daher, dass der Ausbildungsstand im Bereich des Verkaufspersonals nach Einführung einer zweistufigen Ausbildung 1968 mit 70 Prozent recht hoch lag. Aber die "geschlechtsspezifische Differenzierung von Arbeitstätigkeiten in den betrieblichen Sozialstrukturen" (121) blieben vorgezeichnet, leitende Positionen blieben fast durchweg Männern vorbehalten, während die Berufswege von Frauen vor allem zwischen Familien- und Erwerbsarbeit changierten.
Das dritte Kapitel eröffnet Raumperspektiven und fragt nach der Ausgestaltung des Verkaufsraumes. Anhand von Zeichnungen zu Geschäftsräumen skizziert sie die in den 1950er Jahren noch dominierende Tätigkeit hinter dem Verkaufstresen, bei dem Beraten und Kassieren meist von derselben Person ausgeführt wurde. Der Siegeszug der Selbstbedienung führte dazu, dass Kassieren zu einer nahezu rein weiblichen und sozial abgewerteten Tätigkeit wurde. Dieser irreversible Prozess führte zu einer schlechteren Stellung in der sozialen Ordnung, Vorreiter war die Lebensmittelbranche, aber auch beim Textilverkauf wurde die Verkaufstätigkeit vor allem zu einer unterstützenden Servicetätigkeit. Die Warenhauskette C&A war früh führend bei der Standardisierung von Arbeitsprozessen, sicher auch aus der Betriebsgröße bedingt. Dass die "Geschlechterdifferenz ubiquitär wurde" (333) ergibt sich für Rienks daher auch aus der Umgestaltung der Verkaufsräume und einer Nivellierung von Stadt-Land-Unterschieden, bei der weibliche Tätigkeiten nun überwiegend dienend und unterstützend waren. Rationalisierung - hier nimmt sie vor allem Materialien des Kassenherstellers NCR und firmeneigene Untersuchungen - gehört zu den beständigen Bestrebungen in Unternehmen. Allerdings standen durchgetakteten Arbeitsabläufen im Einzelhandel immer Unsicherheitsfaktoren entgegen. Insbesondere das Verhalten der Kund:innen war nicht exakt zeitlich planbar. Rienks spricht daher von der "Illusion der Planbarkeit" bei zeitlichen Abläufen (388), da die Interaktionsarbeit des Verkaufens immer wieder flexible Handlungen erfordert.
Im vierten Hauptkapitel werden Arbeitszeiten in den Blick genommen. Arbeits- und Betriebszeiten fielen Anfang der 1950er Jahre weitgehend zusammen. Bei C&A zum Beispiel wurde die Mittagspause auf bis zu zwei Stunden ausgeweitet, um die Arbeitszeit von 45 Stunden und gleichzeitig die Öffnungszeiten einhalten zu können. Daher hatte die Arbeitszeitverkürzung insgesamt eine höhere Arbeitsbelastung zur Folge. Das Ladenschlussgesetz, 1957 von einer großen Koalition von Gewerkschaften - aus Arbeitsschutzgründen - und von Einzelhändlern - als Wettbewerbsausgleich für kleinere Geschäfte - im Bundestag beschlossen, änderte daran nicht grundsätzlich etwas. Insbesondere die Teilzeitarbeit als "weibliche Zeitpraktik" (393) nahm seit den 1960er Jahren erheblich zu und wurde in vielen Verkaufseinrichtungen zur verbreiteten Beschäftigungsform, der Anteil im Einzelhandel stieg von 1960 bis 1989 von 9,3 auf 38 Prozent und betraf fast ausschließlich Frauen. Für Unternehmen bedeutete es Rationalisierungsgewinne, für Beschäftigte zum Teil den Ausgleich von Sorge- und Erwerbsarbeit. Letztlich ist Rienks Urteil hier ambivalent. Teilzeitarbeit passte zu manchen weiblichen Lebensentwürfen, aber die Ausweitung schwächte die "Position der Mehrheit der arbeitenden Frauen" (418f), da es meist nicht den Einstieg in eine eigenständige Erwerbsbiographie bedeutete und so das männliche Ein-Ernährer-Modell und weibliche Nebentätigkeiten stützte.
Rienks breitet eine Vielzahl von Tiefenbohrungen aus. So erfasst sie für das Münchner Modehaus Hirmer Alter und Geschlecht der 126 Beschäftigten, wertet Kandidatenlisten für Betriebsratswahlen aus oder Gedichte von weiblichen Beschäftigten für Betriebsfeiern. Es ist nicht immer leicht, diese vielen überzeugenden Beispiele zu überblicken. Aber auch wenige Gegenbeispiele lassen kaum Widerspruch zu ihrer generellen These einer sozialen und materiellen Marginalisierung von weiblicher Verkaufstätigkeit seit den 1950er Jahren zu. Gelegentlich sind Rienks Schlussfolgerungen zu diesen Tiefenbohrungen etwas freihändig. Die von Beschäftigten als Freiräume genutzten Praktiken, wie längere Verweildauer auf der Toilette, private Gespräche ebenso wie Zuspätkommen oder Rauchen, findet sie explizit erwähnt nur in einer launigen Nikolausrede 1971 im Kaufhaus Beck, woraus sie schließt, dass "im Einzelhandel insgesamt nur wenige zeitliche Freiräume" genutzt wurden (370). Die vielfältigen und verbreiteten Praktiken von entlastenden Zeitaneignungen, quellenmäßig oft nur schwer zu fassen, gehören aber konstitutiv zu allen Arbeitswelten. Davon zeugen auch die dargestellten Kontroll- und Zeiterfassungssysteme.
Rienks Kernthese ist die Marginalisierung weiblicher Verkaufstätigkeit durch Selbstbedienung und Standardisierung von Arbeitsprozessen. Die Verkäuferinnen wurden in diesem Prozess von den 1950er bis in die 1980er Jahre nicht mehr zum "Souverän über die Waren", sondern die "Geschlechterdifferenz" wurde "ubiquitär" (333). Nur gelegentlich klingt bei Rienks an, dass diese Wandlungen für die Käufer:innen durchaus positive Effekte hatten. Aber für doing gender in den Arbeitswelten hat sie eine detailreiche und überzeugende Studie vorgelegt. Gerade weil sie viel 'gefühltes' Wissen anschaulich belegt und scheinbare Selbstverständlichkeiten der Geschlechterordnung aufzeigt, ist es ein Gewinn für die Geschichte der Arbeitswelten.
Knud Andresen