Felix Matheis: Hanseaten im »Osteinsatz«. Hamburger und Bremer Handelsfirmen im Generalgouvernement 1939-1945 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 62), Göttingen: Wallstein 2024, 455 S., ISBN 978-3-8353-5495-1, EUR 42,00
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Die vorliegende Monografie basiert auf einer 2021 an der Universität Hamburg abgeschlossenen Dissertation. Der Autor Felix Matheis analysiert darin die Rolle hanseatischer - gemeint sind vorrangig Hamburger und Bremer - Handelsunternehmen bei der wirtschaftlichen Ausbeutung des sogenannten Generalgouvernements, also eines Teils des von den Deutschen besetzten Polen von 1939 bis 1945. Basierend auf Recherchen in Archiven in Polen und Deutschland untersucht der Autor in fünf Kapiteln (Einleitung und Fazit nicht mitgezählt), inwiefern ein hanseatisches Netzwerk deren wirtschaftlichen Tätigkeiten zunächst ermöglichte und inwieweit sie in den nationalsozialistischen Wirtschafts- und Besatzungsapparat, in die Verdrängung jüdischer und/oder polnischer Gewerbetreibenden und in den Judenmord selbst eingebunden waren. Ziel dieser Studie ist darüber hinaus, das Handeln und die Einbindung nichtjüdischer Polinnen und Polen darin zu beleuchten. Durch einen transregionalen Ansatz wird ferner nach der Übertragung kolonialer Denkmuster und folgerichtig auch nach Handlungsmustern und Veränderungen in den mentalen Landkarten der Unternehmer bei der Neuorganisierung der Warenströme im GG gefragt. Ihre Erfahrungen profitorientierten Wirtschaftens in kolonialen Kontexten etwa in Südamerika, Afrika oder Asien waren integral für ihren "Osteinsatz". Eine Leerstelle bleiben die Handlungsmotive und inneren Logiken der Unternehmen aufgrund fehlender oder unzugänglicher Unternehmensarchive.
Das einleitende Kapitel behandelt das von Kooperation und Konkurrenz geprägte Verhältnis zwischen den traditionsreichen Exporthäusern und den Nationalsozialisten seit ihrem Machtantritt. Dieses spannungsreiche Verhältnis - das sei an dieser Stelle vorweggenommen - zieht sich durch die gesamte Studie. Die Mehrzahl der Hanseaten war dem Nationalsozialismus zwar nicht abgeneigt (hier sei auf das frühe Engagement einflussreicher Hanseaten wie Franz Heinrich Witthoeft, Emil Helfferich und Karl Lindemann beim Keppler-Kreis sowie die fast geräuschlose "Selbstgleichschaltung" (45) hingewiesen), aber wo immer es um Posten, Einfluss oder ökonomisches Handeln ging, zeigten sich divergierende Interessen. Die bereits früh auf Autarkie sowie später auf Kriegswirtschaft ausgerichtete NS-Wirtschaftspolitik lief von Beginn an den Interessen der Überseehäuser zuwider. Diese favorisierten den liberalen Freihandel und den freien Zugang zu den Weltmärkten. Der 'Neue Plan' deutete jedoch auf einen Abschied vom Weltmarkt hin. Den Hanseaten ging es daher zunächst darum, die NS-Wirtschaftspolitik in eine handelsfreundlichere Richtung zu bewegen. Folgerichtig suchten sie nach Wegen, Einfluss auszuüben. Vor allem lokale NS-Politiker konnten dabei von den Hanseaten instrumentalisiert werden. Die Hansestädte agierten zumeist im Verbund und ihre jeweiligen Vertreter (in Hamburg Karl Kaufmann) setzten sich für die Interessen der Unternehmerelite ihrer Stadt ein - es wurde, so der Autor, ein "kooperatives Beziehungsgeflecht" aufgebaut, hanseatische Interessenvertreter wurden in Schlüsselpositionen der NS-Wirtschaft in Berlin und Hamburg integriert (53). Die Studie konzentriert sich in der Folge auf zentrale Figuren wie Walter Emmerich oder Gustav Schlotterer.
Bevor in den beiden zentralen Kapiteln der deutsche Angriff auf Polen und die Tätigkeiten der Unternehmen analysiert werden, beleuchtet das zweite Kapitel die Testphase für die Hanseaten: die hanseatische Expansion nach Wien nach dem "Anschluss" Österreichs seit 1938. Hinsichtlich der unternehmerischen Erfahrungen war dieser Versuch für die Hanseaten aus unterschiedlichen Gründen wirtschaftlich wenig erfolgreich. Was sich in der Folge einstellte, war eher eine Stärkung der Netzwerke. Hier kann der Autor die positive Bewertung des hanseatischen Engagements in Wien von Karl Heinz Roth ("Firma Hamburg") relativieren. Die Stärke der Netzwerke sollte sich am Beispiel Prag noch einmal vergrößern, da sich hier nun - anders als noch in Wien - ein "Interessensblock, der geschlossen agierte", herausbildete (88). Deutlich wird in diesem Abschnitt die Diskrepanz zwischen hanseatischer Hoffnung und wirtschaftlicher Realität.
Der zentrale Abschnitt der Studie fokussiert sich zunächst auf den Überfall auf Polen, der für die Hanseaten eine gänzlich neue Situation schuf. Jetzt nicht mehr nur Verlierer einer regulierten, auf Industrie und Kriegswirtschaft ausgelegten NS-Wirtschaftspolitik, sondern auch mit dem Verlust ihrer Geschäfte und Lagerbestände außerhalb Deutschlands konfrontiert, befanden sich die Hanseaten in einer misslichen Lage. Anschaulich beschreibt der Autor die Zerstörung der polnischen Volkswirtschaft sowie die Etablierung der nationalsozialistischen Terrorherrschhaft auf allen Ebenen. Die strukturelle Zerstörung der Wirtschaft und auch des Handelssektors führte zu einem Warenmangel, Inflation und einem blühenden Schwarzmarkt. Dies galt es zu bekämpfen und die arbeitende Bevölkerung in der Industrie mit Produkten aus der Landwirtschaft zu versorgen - was die Aufgabe der Hanseaten werden sollte. Es verhielt sich nicht so, dass alle Unternehmen darauf drängten, ins GG zu gehen. Zu jenem Zeitpunkt war der Landweg nach Asien noch intakt, zudem waren sie sich der Risiken eines Engagements im GG durchaus bewusst. Der Autor betont erneut das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Abwägungen und ideologischer Motivation. Etwas weniger ins Gewicht fielen dabei die kurzfristigen Kolonialträume nach den Siegen der Wehrmacht über Frankreich, Niederlande und Belgien, sie sollen aber nicht unerwähnt bleiben.
In der Folge durchdringt Matheis das sich etablierende System der Agrarausbeutung; er kann auf diese Weise die Position der Hanseaten im NS-Besatzungsapparat deutlicher bestimmen. Zwar handelten diese Unternehmen vorrangig pragmatisch und weniger ideologisch, doch spielte dies für ihre Position im Ausbeutungssystem nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen hebt die Studie die strukturelle Funktion der Unternehmen hervor, durch sogenannte Prämienware zumindest einen Teil der polnischen Agrarproduktion dem Schwarzmarkt zu entziehen, dem allein durch Zwang und Terror - ebenso wie der Inflation - nicht beizukommen war. Die Rolle der Hanseaten war integral bei der Überlegung, Agrarprodukte mittels Anreize zu akquirieren. Sie hielten dieses System bis zuletzt aufrecht und beteiligten sich an einem "autoritäre[n] und erpresserische[n] Zwangsaufkaufystem, das marktwirtschaftliche Elemente mit außerökonomischer Gewaltandrohung kombinierte." (196). Die Anreize (Prämien) kamen aus unterschiedlichen Kontexten: Zum einen aus den Beständen der Unternehmen, die nicht mehr abgesetzt werden konnte, zum anderen von den enteigneten jüdischen Gewerbetreibenden; hier schreibt der Autor von einer "indirekten 'Arisierung'" (233). Von dieser profitierten zuvorderst die Hanseaten, aber auch die nicht-jüdischen Polinnen und Polen besetzten auf einer unteren Ebene die freigewordenen Stellen im System. Ihre Rolle bewertet der Autor als ambivalent: Einerseits profitierten sie von der antisemitischen Politik (Prämien wurden auch von polnischen Gewerbetreibenden veräußert), litten jedoch ihrerseits unter der NS-Terrorherrschaft. Der Überfall auf die Sowjetunion führte zu einem stärkeren Engagement der Außenhandelsunternehmen als auch zu Überlegungen einer Ausweitung auf die eroberten Gebiete der Sowjetunion, das GG galt als erfolgreiches Versuchslabor.
Mit seiner Studie fügt der Autor dem Selbstbild des ehrbaren Kaufmanns einen weiteren Kratzer zu. Matheis zeichnet überzeugend die Bildung und die Wirkung des Hanseaten-Netzwerks nach. Zur Wahrheit gehört sicher, dass die Unternehmer in dem unsteten Fahrwasser der NS-Wirtschaftspolitik zu navigieren suchten und eher pragmatisch denn ideologisch handelten, aber eben auch, dass sie damit den NS-Besatzungsapparat wirtschaftlich aufrechterhielten und dabei gut verdienten. Die dichte Beschreibung des Systems der Agrarausbeutung lässt deren Position dabei deutlicher bestimmen. Der Autor knüpft an die Arbeiten von Frank Bajohr, Karsten Linne und Karl Heinz Roth an und erweitert sie, in dem er die Wirkungsweise der "Firma Hamburg" im GG nachzeichnet und sie als Profiteure der "Arisierungen" identifiziert. Der vielfache Hinweis auf die kolonialen Vorstellungen der Unternehmer, die zwischen Imagination und Selbstlegitimation oszillierten, fügt die der Debatte um den Zweiten Weltkrieg im europäischen Osten als Kolonialkrieg eine weitere Komponente hinzu. Die Monografie von Felix Matheis überzeugt durch ihre fundierte Quellenarbeit und ihre präzise Analyse und stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Rolle der Hanseaten in der NS-Wirtschafts- und Besatzungspolitik und dar.
Hendrik Heetlage