Rezension über:

Rudolf Stöber: Deutschland-Bilder. Spiegelungen nationaler Identität (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 157), Bremen: edition lumière 2023, 924 S., ISBN 978-3-948077-36-5, EUR 59,80
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Rezension von:
Christiane Liermann Traniello
Villa Vigoni
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Liermann Traniello: Rezension von: Rudolf Stöber: Deutschland-Bilder. Spiegelungen nationaler Identität, Bremen: edition lumière 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 2 [15.02.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/02/39120.html


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Rudolf Stöber: Deutschland-Bilder

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Bis weit ins 21. Jahrhundert hinein galt im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik die Rede von Identität als anstößig, politisch rechts, wissenschaftlich problematisch und umstritten; essentialistisch, mithin statisch und tendenziell diskriminatorisch sowie aufgrund der Unschärfe analytisch unbrauchbar lauteten die Verdikte. Identität sei "einer der schillerndsten Begriffe in den Sozialwissenschaften". [1]

Seit dem Aufstieg rechter und linker Populismen hat auch die Popularität des Terminus zugenommen: Identität ist heute ein inflationär präsenter Begriff im politischen Vorfeld und in kulturellen Auseinandersetzungen, mal verstanden im Sinne emanzipatorischer Selbstbestimmung (postkolonial, critical race theory) mal angerufen zwecks defensiv-revisionistischer Selbstvergewisserung (para-religiös, völkisch-nationalistisch). Obwohl persönliche und kollektive Identität populäre Stichworte in den Versuchen der Standortbestimmungen gerade der Europäer sind, gibt es keine allgemein akzeptierte Begriffsdefinition. Nur so viel scheint klar zu sein: Der Hinweis auf eine gemeinsame Identität adressiert den gewünschten und/oder erlebten Zusammenhalt einer Gemeinschaft.

Angesichts des umstrittenen Leumunds des Konzepts von Identität ist dem Autor der hier anzuzeigenden Studie "Deutschland-Bilder" dafür Respekt zu zollen, dass er den provokanten Untertitel wählt "Spiegelungen nationaler Identität". Tatsächlich gehört zum Bündel der Kritik am Identitätsbegriff ja auch der Vorwurf, Identität sei eine überholte Kategorie eines überholten nationalstaatlichen Rahmens. Aber der Bamberger Historiker Rudolf Stöber, Spezialist für Mediengeschichte, ist alles andere als ein Essentialist des Deutschtums. Er macht sich im Gegenteil jenen zeitgenössischen Umgang mit Identitätsfragen zu eigen, wie er sich beispielsweise auch bei Aleida Assmann findet. [2] Der besteht zuallererst in der klaren Absage an normative Identitätsvorgaben im Sinne einer geforderten enggeführten Homogenisierung von Zugehörigkeitskriterien. Es gehört zum Konsens, davon auszugehen, dass sie dem demokratischen Prinzip eines geregelten Interessenkonflikts und Interessenausgleichs widersprechen, wobei bisweilen verkannt wird, dass die Kritik der engen Homogenisierung die breite Homogenisierung derer impliziert, die sich zu demokratischen Konfliktlösungsstrategien bekennen.

Keinen Platz hat in Stöbers Nachspüren nach der kollektiven Identität der Deutschen die Abwertung anderer Kollektive als Kehrseite der Medaille. Es geht ihm überhaupt nicht um eigene Festlegungen dessen, was deutsch ist oder sein soll. Er will vielmehr am Beispiel der Deutschen durchdeklinieren, wie Zugehörigkeitsdiskurse entstehen und wie Zugehörigkeiten konkret aussehen können, mit welchen Bausteinen sie arbeiten und welche materiellen und immateriellen Komponenten als identitätsstiftend wahrgenommen oder deklariert werden.

Drei Hauptmerkmale des neueren Identitätsdiskurses bilden auch Stöbers Grundannahmen: Historisierung, Pluralisierung und Narrativisierung. Gegenstand seines voluminösen Buchs sind, wie es der Titel sagt, "Bilder"; gemeint sind Erzählungen, Erinnerungen, Spiegelungen, Wahrnehmungen. "Deutschland-Bilder" steht als Metapher für Ansichten, Befindlichkeiten, Zuschreibungen (7). Es sind Konstrukte, Artefakte, wie der Autor betont, die er aus Textquellen unterschiedlichster Gattungen und Epochen zusammenstellt. Er beobachtet ihren historischen Wandel, ihre Pluralität und Subjektivität, inklusive ihrer Widersprüchlichkeit. Und immer wieder unterstreicht er, dass es sich um Zuschreibungen handelt, die zu anderen Zeiten und von anderen Protagonisten notiert auch ganz anders ausfallen können. Hier wird keine Linearität unterstellt. Gleichwohl huldigt Stöber keinem radikalen Konstruktivismus. Er geht davon aus, dass es so etwas wie Realia hinter oder neben den Erzählungen gibt, welche die Geschichtswissenschaft ebenso freilegen kann und muss, wie sie Narrative und mediale Vermittlungen selbst als weitere Realia der historischen Welt ernst zu nehmen und nicht nur ideologiekritisch zu entlarven hat. "Das Thema deutsche Identitäten macht besonders deutlich, dass es nicht immer darauf ankommt, was war, sondern häufig eher darauf, wie es erinnert, erzählt und imaginiert wird. [...] Das faktisch Falsche wirkt bisweilen stärker mythen- und identitätsstiftend als das historisch Richtige". (8)

Entstanden ist ein hochgelehrtes Lesebuch, weniger systematisch durchzuarbeiten, als impressionistisch, nach Art eines Feuilletons zu lesen. Es ist gegliedert in sechs große Themenblöcke, die nach Kategorien und Instrumenten der Wahrnehmung und Deutschland-Bilder-Konstruktionen fragen. Dazu gehören Vorstellungen von Zeit und Raum; Sprache, Medien und Öffentlichkeit; das Feld des Politischen. Sie dienen Stöber als Gerüst für die Nacherzählung einer unendlichen Fülle illustrativer Episoden, welche die Kernbotschaft von der Fluidität dessen, was als deutsch verstanden worden ist, veranschaulichen sollen. Ein besonderer Reiz des Buchs liegt darin, dass der Autor jederzeit den deutsch-deutschen Vergleich im Umgang mit den erinnerungspolitischen Versatzstücken der nationalen Identitätsdeutungen besichtigt. Seine Zeugen sind Literaten, Liedermacher, Politiker, Intellektuelle. Das Kaleidoskop von Stöbers Deutschland-Bilder-Protagonisten reicht von Martin Luther bis Reinhard Mey, vom Kulturkampf bis Pegida.

Nicht überall ist erkennbar, inwieweit die nacherzählten Geschichten die nationale Identität der Deutschen spiegeln, aber sie sind durchweg unterhaltsam. Streckenweise rekonstruiert der Autor Kapitel der deutschen Geschichte, ohne dass unmittelbar deren Funktion im Kontext deutscher Identitätskonstruktionen, Narrativ- und Mythenbildungen ersichtlich würde. Dies erweist sich als Schwäche des gelehrten Opus, zumal bei Stöber das unterstellte spezifisch Deutsche episodenhaft, aber nicht systematisch durch die Kontrastierung mit Alteritäten Evidenz erlangt (was dem Autor bewusst ist). In gewisser Weise ist hierfür das wichtige Kapitel VI symptomatisch. Es behandelt die Frage: "Wie halten es die Deutschen mit den Juden?" und bietet ein reichhaltiges Panorama von Legendenbildungen und Stereotypen-Kolportagen sowie deren Wirkmacht und Permanenz von Heinrich von Treitschke bis Björn Höcke. Es bleibt aber unentschieden, was daran Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und was die Rekonstruktion von Mustern einer mit dem Judenhass operierenden Identitätsstiftung der Deutschen ist. Die Klammer, die Stöber findet, ist letztlich das alte "De te fabula narratur": Alles, was irgendwie ausgedrückt wird - in Filmen, Romanen, Geschichtswerken -, erzählt vom Sprecher selbst und seiner sozialen Selbstverortung.


Anmerkungen:

[1] Martin Kohli: Die Entstehung einer europäischen Identität. Konflikte und Potentiale, in: Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, hgg. von Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig, Frankfurt am Main / New York 2002, 111-134, hier 111.

[2] In der Literaturliste nennt Stöber Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020.

Christiane Liermann Traniello