Pavel Poljan: Babij Jar. Realii, Chișinău: The Historical Expertise 2024, 692 S., ISBN 978-3-910741-57-7
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Pavel Poljan : Svitki iz pepla. Evresjkaja "zonderkomando" v Aušvice-Birkenau i ee letopiscy. Rukopisi, najdennye v peple u pečej Osvencima (Z. Gradovskij, L. Langfus, Z. Levental, Ch. German, M. Nadari i A. Levite). [Die Schriftrollen aus der Asche: Das jüdische "Sonderkommando" im KZ Auschwitz-Birkenau und ihre Chronisten. Die Handschriften, gefunden in der Asche vor den Auschwitz-Öfen], Moskau: Feniks 2013
Dieses Buch steht wie ein Berg vor uns, mehr als sechshundert Seiten stark. Sein Autor, der Historiker, Literaturwissenschaftler und Essayist Pavel Poljan hat schon eine Reihe von Beiträgen und Büchern zu nationalsozialistischen Massenverbrechen verfasst, hier nun trägt er zusammen, was wir heute über das Massaker von Babij Jar wissen können. Und er geht weit über den eigentlichen Massenmord an mehr als 33.000 jüdischen Frauen, Männern und Kindern am 29./ 30. September 1941 hinaus. Von den vier Abschnitten seines Buches ist nur einer dem Mordgeschehen im deutsch besetzten Kyjiw selbst und dessen juristischer Aufarbeitung gewidmet, drei weitere der Vor- und Nachgeschichte.
Der erste Abschnitt handelt schwerpunktmäßig (aber nicht ausschließlich) von den verschiedenen Wellen antisemitischer Pogrome in der Ukraine vor und nach 1917. Der zweite beschreibt das Massaker von Babij Jar im Kontext des "Holocaust durch Kugeln" und der anderen deutschen Besatzungsverbrechen. Die Abschnitte drei und vier schließlich behandeln das Gedenken an dieses Massenverbrechen (bzw. dessen Verdrängung) in der Sowjetunion und der unabhängigen Ukraine. Wie vielfältig das Spektrum der Einzelaspekte ist, die Poljan aufgreift, lässt sich schon am Umfang des Inhaltsverzeichnisses ablesen - es umfasst viereinhalb Seiten. Um die einleitende Metapher aufzugreifen: der Berg ist ziemlich zerklüftet, und wer ihn besteigt, läuft Gefahr, sich zu verirren.
Da sich Poljan hervorragend in den Archiven und der Forschung auskennt, gibt es auch für jene sehr viel zu entdecken, die sich selbst intensiv mit den von ihm hier behandelten Themen beschäftigen. Besonders eindrücklich sind die biografischen Skizzen, die der Autor in seine Darstellung einflicht - etwa die zu Pinkhos Krasny, einem 1881 geborenen jüdischen Pädagogen und Politiker. Er war 1919/20 Minister für jüdische Angelegenheiten in der damals unabhängigen Ukraine, doch den Progromen, die auch von den Truppen der eigenen Regierung verübt wurden, stand er weitgehend machtlos gegenüber. 1920 flüchtete er nach Polen, kehrte 1925 in die Sowjetukraine zurück und wurde 1939 zunächst wegen antisowjetischer Tätigkeit zu zehn Jahren Haft verurteilt und dann zwangsweise in das psychiatrische Krankenhaus in Kyjiw eingewiesen. Dort erschossen ihn die Deutschen im Oktober 1941 zusammen mit 308 weiteren jüdischen Patienten, zwei Wochen nach dem Großmassaker von Babij Jar im Zuge einer der weiteren Massenexekutionen.
Im Abschnitt über die Zeit der deutschen Besetzung gelingt Poljan eine multiperspektivische Darstellung des Geschehens, angefangen von den sich seit Beginn des Überfalls entwickelnden Plänen der Deutschen für einen antijüdischen Genozid, über die "Infrastruktur des Terrors" in Kyjiw, die einheimischen Helfer der Mörder (darunter viele Hauswarte) und den Rettern der jüdischen Verfolgten (auch unter ihnen Hauswarte) bis zu Verbrennung der Leichen im Spätsommer 1943, um die Spuren des Verbrechens zu verwischen und bis hin zu dessen (sehr lückenhafter) juristischer Aufarbeitung. Er bewegt sich dabei immer eng an den Quellen unterschiedlichster Provenienz - Memoiren, deutsche und sowjetische Akten, Zeitzeugenberichte - und schafft es auf diese Weise, uns das häufig widersprüchliche Handeln der Akteure nahe zu bringen. Zu diesen gehörte beispielsweise der 1921 geborene jüdische Dichter Jakow Galperin, der 1941 anscheinend bewusst in Kyjiw blieb, um die Besetzung durch die Deutschen mit eigenen Augen zu beobachten. Unter seinem ukrainischen Pseudonym Jakiw Galitsch publizierte er im Herbst 1941 - nach dem Großmassaker - in der Zeitung "Ukrainske Slowo", in der auch zahlreiche antisemitische Texte erschienen, eine Reihe von Gedichten, bevor er in das Visier der Gestapo geriet, sich dann bei ukrainischen Freunden versteckte und 1943 bei einem Gang durch die Stadt an die Deutschen verraten wurde.
Der dritte Abschnitt setzt mit einer Darstellung des Antisemitismus in Kyjiw (und der Ukraine) nach Abzug der Deutschen ein, wo Poljan etwa herausarbeitet, wie der ukrainische Parteichef und spätere Staatschef Nikita Chruschtschow sich mit seiner Personalpolitik in den Trend einfügte, das "Verschwinden" der Juden an sich als begrüßenswert zu erachten. Das Jüdische sollte in der Nachkriegsukraine zumindest möglichst unsichtbar bleiben, und so signalisierte Chruschtschow beispielsweise einer jüdischen Mitarbeiterin des Zentralkomitees, die die Besatzung mit einer gefälschten ukrainischen Identität überlebt hatte, sie könne nur dann weiter im Parteiapparat arbeiten, wenn sie diese beibehalte.
Den weitaus größeren Teil der Abschnitte drei und vier dieses Buches (und mit 350 Seiten auch deutlich über die Hälfte des Gesamtumfanges) machen allerdings die Kapitel über die Erinnerungspolitik aus. Deren verschiedene Phasen seit 1943 sind bislang noch nie derart detailliert und umfassend beschrieben worden. Poljan schildert in Abschnitt drei die ersten literarischen Verarbeitungen des Massenverbrechens durch Schriftsteller wie Wassilij Grossman, die jahrzehntelang immer wieder blockierten Pläne für ein Mahnmal für die Opfer - und die Verzerrung des Gedenkens durch die kommunistische Partei, die 1976 zwar schließlich eine Monumentalskulptur am Tatort errichten ließ, in der Inschrift aber verschwieg, dass die dort ermordeten "friedlichen Sowjetbürger" mehrheitlich jüdisch waren. In Abschnitt vier wie im Epilog (zusammen 220 Seiten umfassend) geht Poljan dann auf den "Bürgerkrieg der Symbole" (391) in der unabhängigen Ukraine bis in die Gegenwart ein. Diese detaillierte Darstellung der Gedenkkonflikte um Babij Jar ist sehr verdienstvoll - insbesondere hinsichtlich der sich entwickelnden Opferkonkurrenz, die dazu führte, dass alle Opfergruppen in diesen Ort eingeschrieben wurden, unabhängig davon, ob die betreffenden Personen dort auch tatsächlich ermordet wurden. Doch stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, all diese Konflikte bis in ihre letzten Verästelungen nachverfolgen zu können. Die nach den jeweiligen Präsidialkabinetten (von Leonid Kučma bis Wolodymyr Selenskyj-2) gegliederte Darstellung bekommt auf diese Weise teils den Charakter einer kommentierten Chronologie.
Allerdings kann man Poljan keinesfalls vorwerfen, er würde nur Fakten aufeinanderhäufen - ein anderes Problem dieses beeindruckenden Werkes ist vielmehr der teils überbordende Drang zu Assoziationsketten und seine unbedingte Bereitschaft, sich selbst ins Getümmel zu werfen. Wenn er in der Einleitung schreibt, dieses Buch habe er "ohne Sentimente und Groll" (18) geschrieben, darf man dies als understatement auffassen. Die Tatsache, dass der Text mehr als 1200 Ausrufezeichen enthält, spricht für sich. Prägnante Positionen zu beziehen, ist unproblematisch, zumal dann, wenn sie wie bei Poljan begründet sind. Aber man fragt sich gerade im vierten Abschnitt des Buches zuweilen, ob dies eine historisch-politische Analyse oder eine Streitschrift sein soll.
Ein größeres Problem stellt der überwölbende narrative Rahmen dar, mit dem Poljan die vier Abschnitte seines Buchs zusammenhält. So leuchtet es zwar ein, die Vor- und Nachgeschichte des Judenmords in Kyjiw unter deutscher Besatzung zu erzählen, um den Holocaust zu kontextualisieren und zu versuchen, das Handeln der unterschiedlichen Akteure zu verstehen. Und es ist selbstverständlich, dabei die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart in den Blick zu nehmen. Doch zwängt Poljan seine Analyse ohne Not in das gedankliche Korsett von vier antisemitischen Bünden, mit denen er die einzelnen Abschnitte überschreibt - des historischen "Bundes des russischen Volkes" der vorrevolutionären Zeit, des fiktiven "Bundes des deutschen Volkes" der Zeit des deutsch-sowjetischen Krieges als Metapher für die deutschen Mordeinheiten, des "Bundes des sowjetischen Volkes" der Jahre 1943 bis 1991 und schließlich des "Bundes des ukrainischen Volkes" seit 1991. Ein analytischer Mehrwert ergibt sich daraus nicht, im Gegenteil: Die nationalistischen Antisemiten des Zarenreichs mögen beeinflusst haben, wie ukrainische Juden 1941 auf die Deutschen blickten (indem die Deutschen nämlich als die Akteure erinnert wurden, von denen am Ende des Ersten Weltkriegs keine antisemitischen Pogrome ausgingen), doch waren sie irrelevant dafür, wie die deutschen Antisemiten mit Hilfe einheimischer Kollaborateure 1941 den Holocaust in Gang setzten. Die Begriffe Bund des sowjetischen Volkes bzw. Bund des ukrainischen Volkes wiederum mögen bestenfalls erklären, welche Homogenisierungsvorstellungen jeweils gegenüber Juden bestanden, ansonsten erklärt diese assoziativ-rhetorische Gleichsetzung mittels fiktiver "Bünde" jedoch nichts, sondern lenkt von den fundamentalen Unterschieden sowohl zur Zeit vor 1920 wie vor allem zur Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg ab.
Daran lässt sich abschließend die Frage anknüpfen, wie sinnvoll es war, diese drei Komplexe (Pogrome und Antisemitismus im Zarenreich und in der frühen Sowjetzeit, der Holocaust im Kontext der anderen Besatzungsverbrechen, die Erinnerungspolitik in der Sowjet- und der unabhängigen Ukraine) in einem Buch zusammen abzuhandeln, anstatt ihnen jeweils ein eigenes Werk zu widmen. An Material dafür mangelt es offensichtlich nicht.
Bert Hoppe