Rezension über:

Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert, 2. Auflage, Berlin: Rowohlt 2024, 544 S., 39 z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-87134-176-2, EUR 34,00
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Rezension von:
Horst Carl
Historisches Seminar, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Horst Carl: Rezension von: Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert, 2. Auflage, Berlin: Rowohlt 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39589.html


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Marina Münkler: Anbruch der neuen Zeit

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Dass das 16. Jahrhundert als "Anbruch der Neuen Zeit" ein Jahrhundert des Aufbruchs gewesen sei, ist ein historiographischer Topos, der nicht zuletzt die Legitimität der Frühen Neuzeit als eigene Epoche beglaubigt. Obwohl die Geschichtswissenschaft dies immer wieder relativiert und alternative Epochengliederungen vorgeschlagen hat, hält Marina Münkler beherzt und programmatisch am Neuzeitcharakter des 16. Jahrhunderts fest. Die Dynamik des Aufbruchs unterstreicht den Charakter eines "dramatischen Jahrhunderts", wie dies der Untertitel beschwört. In den Kapitelüberschriften ist denn auch von "grundstürzender Epoche" oder "Aufbruch zu neuen Horizonten" die Rede.

Wenn diese Apostrophierung des 16. Jahrhunderts als Aufbruch in die Neuzeit aber mehr als die bloße Beschwörung eines historiographischen Topos sein soll, müssen auch neue Perspektiven auf dieses Jahrhundert geboten werden. Dies gelingt Marina Münkler in ihrer Darstellung des "dramatischen" 16. Jahrhunderts durchaus: Sie orientiert ihre Darstellung an einem globalgeschichtlichen Ansatz, der Weltreichsbildung und globale Wirtschaftskreisläufe in den Blick nimmt. Die Dramatik rührt bei ihr dann daher, dass das expandierende Europa seine globalgeschichtlich periphere Lage verlässt und zum Global Player wird. Ihre Darstellung entgeht aber der Gefahr, sich in den Weiten globaler Dimensionen zu verlieren, gegen die neuere globalgeschichtliche Überblicksdarstellungen zur Frühen Neuzeit nicht immer gefeit sind. Dadurch dass sie sich auf die Auseinandersetzung der beiden expandierenden europäischen Großreiche der Habsburger und Osmanen als "geopolitische Grundierung des Jahrhunderts" (34) konzentriert, bietet Münkler einen roten Faden, der durchaus an Fernand Braudels klassische Konzeption der mediterranen Welt im 16. Jahrhundert erinnert. Im Unterschied zu Braudel aber sorgt bei Münkler die globale Perspektive dieser Expansion, die sie auch für das osmanische Reich herausarbeitet, dafür, dass das Mittelmeer nicht mehr das eigentliche Kraftzentrum des 16. Jahrhunderts ist.

Kombiniert wird diese globalgeschichtliche Perspektive mit einer Wahrnehmungs- und Wissensgeschichte der Europäer. Dabei geht es um die Alterität der Anderen in West und Ost als "Menschenfresser" und "Barbaren", und beispielsweise um die Genese und Instrumentalisierung der Türkenphobie zwecks Wiederauflage religiös begründeter Kreuzzüge. Dahinter steckt bei Münkler letztlich ein ambitioniertes Unterfangen, will sie doch - mit Hegel formuliert - eine Expansionsgeschichte "an und für sich" schreiben. Dafür muss allerdings ein Preis gezahlt werden, denn letztlich werden spätestens hier die Osmanen nicht mehr gleichrangig behandelt: So sehr Münkler die militärische und infrastrukturelle Überlegenheit als Grundlage der Expansion des osmanischen Reiches betont - die entsprechende Wissensgeschichte bleibt eine (west)europäische.

Die ersten Kapitel des Buches bieten eine gut zu lesende Darstellung europäischer Expansionsgeschichte ab der Mitte des 15. Jahrhunderts, deren Reiz in der Parallelisierung mit der osmanischen Expansionsgeschichte liegt. Technologie- und Infrastrukturgeschichte werden breit berücksichtigt, betont wird zudem die Überlegenheit der militärischen Organisation und Taktik auf Seiten der Osmanen. Die Europäer konnten dem bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zumindest zu Lande wenig entgegensetzen. Der Höhepunkt osmanischer Expansion wird in der Regierungszeit Selims II. (1512-1520) verortet, unter dessen Herrschaft sich das Reich durch Siege über die Safawiden und Mamluken und die Übernahme des Kalifats mehr als verdoppelte. Einen größeren Erkenntnisgewinn als die bekannte Konfrontation der spanischen mit der osmanischen Expansion, die in der Seeschlacht von Lepanto 1571 kulminierte, vermittelt allerdings die Auseinandersetzung der Osmanen mit den Portugiesen um die Beherrschung des Indischen Ozeans. Münkler zeigt, dass diese wenig bekannte Auseinandersetzung mit großem Einsatz auf beiden Seiten geführt wurde, und dass auch auf osmanischer Seite bemerkenswerte intellektuelle und militärische Akteure wie Piri Reis das Geschehen prägten. Die militärische Auseinandersetzung verlief nicht minder dramatisch als die im Mittelmeerraum, aber nach einer Kulmination in den 1550er Jahren kam es doch zu einem angesichts der Kräfteverhältnisse überraschenden Ergebnis: Die Portugiesen behaupteten ihr See- und Handelsreich gegen alle osmanischen Versuche, sie aus dem Indischen Ozean zu verdrängen, so dass der osmanischen Expansion hier noch früher als im Mittelmeer Einhalt geboten wurde.

Angesichts dieser globalen Verflechtungsgeschichte wirkt der zweite Teil des Buches, der im sechsten Kapitel mit einer vergleichsweise konventionellen Darstellung von Luthers Reformation seinen Ausgang nimmt, wie ein tiefer Bruch in der Darstellung und Gesamtkonzeption. Es ist mit guten Gründen nachvollziehbar, wenn die aus der Reformation resultierende Spaltung der christlichen Kirchen angesichts ihrer globalen Folgen nicht ins Konzept eines globalgeschichtlichen "provincialising Europe" eingezwängt werden soll - aber der rote Faden der Gesamtkonzeption geht im Folgenden weitgehend verloren. Die "Türken" etwa kommen fast nur noch als Chiffren für apokalyptische Visionen Luthers vor, auch wenn Münkler durchaus interessante Belege für Luthers Quellen, aus denen sich sein Türkenbild speiste, anführt. Und interessant ist auch der Bogen, den sie von Luthers Kritik am spätmittelalterlichen Heiligenkult über das altgläubige Gegenprojekt der Heiligsprechung Bennos von Meißen, protestantische Märtyrerkulte und schließlich die höchst erfolgreiche Propagierung von Marien- und anderen Heiligenkulten im spanischen Kolonialreich schlägt.

Aber so interessant diese Bezüge sind, für einen roten Faden der Gesamtdarstellung reicht ein "Kampf um die Heiligen" nicht mehr aus. Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der Religionskriege und Verfolgungen in der Alten und Neuen Welt unter den Rubriken "Heilige, Märtyrer und Hexen" abgehandelt werden, wird dann auch nur noch sehr summarisch dargestellt. Die beschworene Dramatik kommt dem 16. Jahrhundert so auf halbem Weg abhanden. Am Ende steht denn auch keine Zusammenfassung, die die einzelnen Erzählfäden überzeugend ordnet, sondern ein "Epilog", der eher zufällig bei Johannes Kepler landet.

Soweit der Rezensent dies beurteilen kann, ist die Darstellung gut informiert und auf der Höhe der aktuellen Forschung. Umso mehr irritiert es, wenn Luther seine Thesen am 31. Oktober 1517 ganz konventionell an die Tür der Wittenberger Schlosskirche anschlägt, ganz so, als werde hier der historisch nicht nachgewiesene Topos des Gründungsaktes noch einmal zwecks Dramatisierung beschworen.

Was also bringt die Lektüre dieser Geschichte des 16. Jahrhunderts? Wer sich für eine gut geschriebene Darstellung interessiert, die versucht, sich jenseits etablierter Narrative zu positionieren, und dabei immer wieder interessante und ungewöhnliche Bezüge herstellt, wird durchaus fündig werden. Ein überzeugendes neues Narrativ, das eine Mitte zwischen entgrenzter Globalgeschichte und traditioneller europäischer Neuzeiterzählung einnehmen kann, wird der Leser aber eher nicht finden.

Horst Carl