Jakob Schönhagen / Ulrich Herbert (Hgg.): Migration und Migrationspolitik in Europa 1945-2020, Göttingen: Wallstein 2023, 422 S., ISBN 978-3-8353-5496-8, EUR 42,00
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Martin Zückert / Heidi Hein-Kircher (Hgg.): Migration and Landscape Transformation. Changes in Central and Eastern Europe in the 19th and 20th Century, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016
Durch die prominente Rolle, die das Thema Migration zurzeit in politischen Diskussionen in ganz Europa einnimmt, mag der Eindruck entstehen, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, das erst in den letzten zehn Jahren bedeutendes Gewicht erhielt. Dass diese Sicht keineswegs zutrifft, sondern Wanderungsprozesse "eines der wesentlichen Kennzeichen der europäischen Geschichte der vergangenen achtzig Jahre" (8) sind, stellt der von Jakob Schönhagen und Ulrich Herbert herausgegebene Sammelband eindrucksvoll unter Beweis. In seiner Form ähnelt das Werk weniger den geschichtswissenschaftlichen Überblicksdarstellungen von Klaus Bade [1] oder, aktueller, Peter Gatrell [2], sondern eher politikwissenschaftlichen Vergleichsstudien wie dem mittlerweile in der vierten Auflage vorliegenden Sammelband Controlling Migration. Die Kombination dieser Form mit einer dezidiert geschichtswissenschaftlichen Ausrichtung verweist somit auch auf den interdisziplinären Charakter der Migrationsforschung.
Auf die Einleitung folgen ein Beitrag zur internationalen Flüchtlingspolitik und einer zur Europäischen Union sowie insgesamt zwölf Kapitel, die sich jeweils auf die Migrationsgeschichte und -politik eines europäischen Staates fokussieren. Letztere sind grob geografisch geordnet: Der Blick der Beiträge reicht von Nordwesteuropa (Frankreich, Niederlande, Schweden, Deutschland) über Südeuropa (Italien, Spanien, Griechenland) nach Mittel- und Osteuropa (Jugoslawien, Polen, Ungarn, Sowjetunion/Russland). Abgeschlossen wird der Sammelband durch einen Beitrag, der allgemeine Muster der Migration in und nach Europa herausarbeitet. Die Auswahl der Fallstudien zeigt bereits, dass es sich hierbei keineswegs um ein weiteres auf Westeuropa zentriertes Werk handelt, sondern um einen Versuch, durch eine ausgewogene Auswahl an Beiträgen einen tatsächlich europäischen Blick auf die europäische Migrationsgeschichte zu werfen.
Die vermutlich größte Stärke des Sammelbandes ist die Diversität in den gewählten Ansätzen und Schwerpunkten der einzelnen Beiträge, welche diese deutlich voneinander abhebt und beim Lesen dazu anregt, auf unterschiedlichste Weise über Migration in Europa zu reflektieren. Der Aufsatz von Olga Sparschuh, in dem die Autorin den Fokus auf die Wanderungsbewegungen Italiens legt, sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben. Dem allgemeinen Verständnis von einer schrittweisen Entwicklung von einem Aus- zu einem Einwanderungsland widerspricht Sparschuh durch die Betonung der Gleichzeitigkeit von Aus- und Einwanderung in den 1950er und 1960er Jahren. Der Großteil dieser Einwanderung fand allerdings nicht als Überquerung der Grenzen des italienischen Staates statt, sondern vielmehr innerhalb dieser Grenzen, in erster Linie als eine Migration aus dem Süden in den Norden. Diese Dynamik bietet ein bedeutendes Beispiel für die Vorteile, die aus einem weitergefassten Verständnis von Migration und Einwanderung hervorgehen, das über ein Denken in den Kategorien von Landesgrenzen hinausgeht.
Beim Vergleich der einzelnen Beiträge lassen sich Themenfelder identifizieren, die einen wesentlichen Teil der Migrationsgeschichte mehrerer Staaten ausmachten, die sich nicht zwangsläufig alle in derselben Region befinden. Dazu zählen unter anderem die Ausgrenzung und Diskriminierung Zugezogener, der Einfluss der europäischen Integration auf das nationale Migrationsregime oder die Anwerbung von Arbeitskräften als Mittel der Wirtschaftspolitik. Ein besonderes Augenmerk sei hier auf Flucht, Vertreibung und Asyl zu richten. Dieser Themenkomplex steht häufig im Schatten anderer Migrationsbewegungen wie der Arbeitsmigration und rückte erst in den letzten Jahren in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Umso erfreulicher ist es, dass alle Aufsätze des Sammelbandes auf die Asylpolitik, aber zum Teil auch auf Fluchterfahrungen innerhalb der betrachteten Staaten eingehen. Damit leisten die Kapitel einen wichtigen Beitrag zur Inklusion von Menschen auf der Flucht in weitere geschichtswissenschaftliche Forschungsfelder - in diesem Fall die Geschichtsschreibung von Migration und Migrationspolitik in Europa.
Diese Gemeinsamkeiten zwischen den Migrationsgeschichten einzelner europäischer Staaten sind äußerst anregend, allerdings bleibt es in der Regel den Lesenden selbst überlassen, diese auszumachen. Das erklärte Ziel des Sammelbandes, mittels der Darstellung einzelner Länderstudien "Verflechtungen und transnationale Prozesse zu identifizieren und Vergleiche zu ermöglichen" (7-8), bleibt damit eher ein Hinweis auf die Möglichkeiten zukünftiger Studien, da nur einzelne Beiträge explizit länderübergreifende Zusammenhänge thematisieren oder entsprechende Vergleiche ziehen. Hier sei auf den Aufsatz von Péter Apor und Tamás Scheibner über Ungarn verwiesen, in dem die beiden Autoren nicht nur die Fluchtbewegung von 1956 aus Ungarn in den Kontext der internationalen Flüchtlingspolitik stellen, sondern auch die Rolle der Migration von Studierenden im Kontext der Migrationsregime der mit der Sowjetunion verbündeten Staaten beleuchten. Der Beitrag zur Sowjetunion und Russischen Föderation geht stellenweise auf Parallelen über die Blockgrenzen hinaus ein, indem Lewis H. Siegelbaum unter anderem Ähnlichkeiten zwischen der Arbeitsmigration in der UdSSR und in Westeuropa, insbesondere Westdeutschland, herausarbeitet.
Beispiele wie diese sind allerdings nicht durchgehend präsent. Eine Strukturierung entlang spezifischer Themenkomplexe statt einzelner Staaten wäre eine Möglichkeit gewesen, den transnationalen Charakter der Migration in Europa noch mehr in den Fokus zu rücken. Darüber hinaus hätte eine solche Perspektive erlaubt, noch mehr Staaten in die Analyse einzubringen und die Perspektive um einige interessante Fälle (allen voran Großbritannien, aber auch Irland, Österreich, oder Zypern) zu erweitern. Diese alternative Strukturierung spiegelt sich zum Teil in den drei nicht auf einen bestimmten Staat bezogenen Kapiteln wider. Am deutlichsten wird das in Peter Gatrells Anregung, "den Blick von diesen" internationalen und supranationalen "Entwicklungen und dem Nationalstaat ab[zu]wenden" (410) und stattdessen die Agency von Menschen mit Migrationshintergrund auf der Mikroebene zum Zentrum der Analyse zu machen.
Trotz dieser Kritik handelt es sich bei dem von Schönhagen und Herbert vorgelegten Sammelband um ein umfassendes Werk, das zahlreiche Möglichkeiten aufzeigt, die aktuelle Migrationspolitik europäischer Staaten aus einer historischen Perspektive zu betrachten. Es stellt damit nicht nur für die Geschichtswissenschaften, sondern auch für die interdisziplinäre Migrationsforschung einen äußerst wertvollen Beitrag dar.
Anmerkungen:
[1] Klaus J. Bade: Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.
[2] Peter Gatrell: The Unsettling of Europe: The Great Migration, 1945 to the Present, London 2019.
Eike Klages