Paul Erxleben: Kritische Theorie aktualisieren. Adorno und Foucault in den Kraftfeldern von Subjekt, Macht und Ideologie (= Edition Moderne Postmoderne), Bielefeld: transcript 2024, 422 S., ISBN 978-3-8376-7248-0, EUR 58,00
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1977 rief Jean Baudrillard dazu auf, Michel Foucault zu vergessen. Sein Essay Oublier Foucault begann mit dem Vorwurf, seine Texte seien stilistisch zwar vollkommen, diese Vollkommenheit ginge jedoch auf Kosten ihrer Fähigkeit, die Gegenwart zu erfassen. Diese Frage nach der Aktualität steht auch im Mittelpunkt von Paul Erxlebens Arbeit, die Foucault mit einem Autor zusammendenkt, der ebenfalls oft für seine "schöne Zunge" (Günter Grass) kritisiert wurde - Theodor W. Adorno. Dabei folgt Erxlebens Dissertation einem historisch grundiertem Erkenntnisinteresse. Es geht davon aus, dass beide Werke gemeinsamen Grundannahmen kritischen Denkens verpflichtet sind, sich jedoch entscheidende Differenzen aus der jeweiligen historischen Konstellation ergeben. Ihre Kritik stellt sich den Bedingungen ihrer eigenen Gegenwart, misst sie jedoch nicht an ahistorischen Maßstäben, sondern analysiert sie auf ihr "historisches Apriori" (Foucault) hin, geht von einem nicht zu hintergehenden "Zeitkern der Wahrheit" (Adorno) aus.
Um den Vergleich zweier umfangreicher Werke zu leisten, orientiert sich die Arbeit an drei Themensträngen, die mit den Schlagworten "Subjekt, Macht und Ideologie" umrissen werden. Sie werden jedoch nicht im Sinne einer "bloßen Identifikation von Gemeinsamkeiten und Unterschieden" (44) erschlossen, sondern folgen einem methodologischen Vorgehen, das der Autor für seine Untersuchung entwickelt und ausführlich darlegt. Seine Methode arbeitet mit den zwei Leitkonzepten des "Kraftfeldes" (44) und der "Sichtachsen". (48) Beide Konzepte dienen dazu, die Autoren historisch spezifisch zu verorten und ihre Arbeiten als theoriepolitische Eingriffe in ihre jeweilige Gegenwart zu verdeutlichen. Das Konzept des "Kraftfelds" hat zum Ziel, Positionen der Autoren so aufeinander zu beziehen, "dass zunächst ein gemeinsames Problem sichtbar wird" und vor diesem Hintergrund die spezifischen Begriffe und "Problematisierungsweisen" ihrer Arbeit vergleichend herausgearbeitet werden können (44). Diese historisch situierte Problemorientierung wird durch die Bezugnahme auf zwei Sichtachsen ergänzt. Die erste Sichtachse fokussiert "Fragen der gesellschaftlichen Transformation", die zweite "problematisiert das Theorie-Praxis-Verhältnis" und fragt "auf welche Weise, sich theoretische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen wandeln". (49)
Um die historische Differenz zwischen beiden Werken zu verdeutlichen, arbeitet Erxleben mit einer instruktiven Zuordnung zu den sozialhistorischen Epochen des "Fordismus" sowie des "Post-Fordismus". So kann Adorno als Theoretiker des sich durchsetzenden Fordismus gelesen werden, während Foucaults Arbeit dem Bruch mit dem fordistischen "Akkumulationsregime" (58) und dem Versuch gilt, die "postfordistische Regulationsweise" (63) zu erfassen.
Nach Darlegung dieses Vorgehens werden die drei Themenfelder in separaten Kapiteln erschlossen, die jeweils einem parallelen Aufbau folgen - nach der Untersuchung der beiden Positionen folgt eine knappe Zusammenfassung, eine Zuspitzung von Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie ein abschließender Vorschlag für eine produktive "Vermittlung" mit Blick auf "Aktualisierungspotentiale". (9-11)
Das Hauptkapitel "Macht und Gewalt" reiht beide Autoren in die Tradition der Herrschaftskritik ein und beschreibt, wie beide ein "gemeinsames Problem behandeln. Sie wollen kritisch analysieren, wie gesellschaftliche Herrschaft funktioniert, welche Prozesse ihr zugrunde liegen und welche Perspektiven ihrer Überwindung existieren". (109) In dieser Perspektive werden leitende Begriff wie Macht, Herrschaft und Gewalt analysiert, in ihrer analytischen Kraft diskutiert und in ihrer Bedeutung für grundlegende Fragen - etwa nach Schuld oder Legitimität - dargestellt. Dabei ergeben sich aufschlussreiche Beobachtungen, die sowohl die Argumentationsgänge verdeutlichen als auch die gemeinsame Problemkonstellation. Hierzu gehört etwa der Hinweis auf Adornos Reflexionen zur Ohnmacht, denen kein Äquivalent beim Macht-Theoretiker Foucault entspricht und so als Anregung zu systematischen Fragen nach dem sozialphilosophischen Mehrwert des Konzepts dienen.
Das Kapitel "Wissen und Ideologie" nähert sich einem Begriffspaar an, das auf besondere Weise die theoriepolitischen Veränderungen zwischen den Generationen Adornos und Foucaults verdeutlicht. Während Adorno "die klassischen Konzepte Bewusstsein und Ideologie" (248) aufgreift und mithilfe von Erkenntnissen aus Psychoanalyse und Sozialforschung überarbeitet, vermeiden Foucaults Arbeiten die direkte Anknüpfung an diese Traditionslinie. Doch hinter den bekannten Vokabeln von der "Ordnung des Diskurses", der "Archäologie des Wissens" oder den "Wahrheitseffekten der Macht" steht für Erxleben die gemeinsame Frage nach der "Verbindung von Herrschaft und Rationalität" (242), die er als Anknüpfung an unterschiedliche "Traditionen der Aufklärung" nachzeichnet und als unterschiedliche Konstellationen der "Vernunftkritik" herausarbeitet (250).
Im Kapitel "Pseudo-Individualität und Subjektivierungsweisen" steht die "Produktion unterwerfender Subjektivierungen" und die Frage nach dem "Widerstand gegen sie" im Mittelpunkt. Auf diese Weise fasst das Kapitel nicht nur die unterschiedlichen Zugänge zur Frage des Subjekts, seiner Produktion und seiner Widerständigkeit zusammen, sondern bietet einen detaillierten Einblick in die begriffliche Mechanik, mit der beide Autoren eine ähnliche Frage von einem vergleichbaren Ausgangspunkt bearbeiten: "Trotz unterschiedlicher Konzeptionen begreifen beide das Subjekt als zentralen Widerstandspunkt". (381) In der Zusammenfassung des Kapitels wird herausgearbeitet, wie eine solche widerständige Subjektivität keiner essentialisierenden oder "positive[n] Theorie des Subjekts" (384) bedarf, sondern auf einem gemeinsamen Verständnis dezentrierter Subjektivität beruht.
Von den zahlreichen Vorzügen der Arbeit stehen zwei im Mittelpunkt, ein methodisch-didaktischer und ein inhaltlicher. Die Arbeit prägt eine vorbildliche Leserorientierung, die sich durch eine klare Gliederung der Themenstränge und ihrer Entfaltung auszeichnet. Auf diese Weise gelingt es, einen differenzierten Zugang zu zwei Werken zu schaffen, die den Ruf des Komplizierten und Hermetischen tragen - ohne dabei begriffliche Feinheiten und theoretische Zwischentöne zu übergehen. Auf inhaltlicher Ebene positioniert sich die Arbeit konsequent für eine politisch-engagierte Lesart der beiden Denker. Ihr Werk wird daraufhin untersucht, was sich mit den Leitbegriffen der Kritik, der Emanzipation und des Widerstands zusammenfassen ließe und mit dem konsequenten Interesse an anderen und weniger unfreien Lebensformen zusammenhängt. Vor allem für die Frage nach dem politischen Foucault und die fragwürdige Rezeption seines Spätwerkes als Ausdruck einer zunehmend (neo)liberalen oder lebenskünstlerischen Haltung bietet die Studie vielfältige Anknüpfungspunkte; keine Anknüpfungspunkte bietet sie jedoch für die ästhetischen Fragestellungen der beiden Autoren. Das zentrale Anliegen von Erxleben, die kritische Theorie zu aktualisieren, lässt sich als Einspruch gegen die zunehmende Kanonisierung der beiden Autoren verstehen, die zwar zu ihrer Popularität beigetragen hat, aber nicht selten mit einem Vergessen ihrer Haltung und deren historischer Kontextualisierung einhergeht. Auch wenn Foucault heute keineswegs so vergessen ist, wie es sich Baudrillards Polemik von 1977 wünschte, lädt das von Erxleben präsentierte Gespräch zwischen Adorno und Foucault zu einer theoriegeschichtlichen Erinnerung ein, die das kritische Denken im Widerstreit mit seinen eigenen Bedingungen und ihrer Veränderung vor Augen führt.
Florian Heßdörfer