Rezension über:

Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hgg.): Jüdische Zeitungen und Autoren. nurinst 2024. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Nürnberg: ANTOGO Verlag 2024, 153 S., ISBN 978-3938286-62-3, EUR 16,50
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Rezension von:
Martin Jander
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Martin Jander: Rezension von: Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hgg.): Jüdische Zeitungen und Autoren. nurinst 2024. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Nürnberg: ANTOGO Verlag 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39904.html


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Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hgg.): Jüdische Zeitungen und Autoren

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Für historisch Interessierte, sozial und politisch Engagierte sowie die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik ist das bereits in seiner 12. Ausgabe erscheinende "Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts" ein großer Gewinn. Es hat sich die Darstellung wichtiger Menschen und Ereignisse des 20. Jahrhunderts und ihrer Bedeutung für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht. Das gibt es in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik nur selten.

Der neueste Band behandelt vor allem jüdische Zeitungen und besondere jüdische Autoren, die uns heute ein Ansporn sein könnten. Mitherausgeberin Andrea Livnat schreibt zum Beispiel über den aus Litauen stammenden Boris Gersman, der in seinem Exil in Südafrika von 1931 bis 1983 die Afrikaner Yidishe Tsaytung, Sprachrohr der aus Osteuropa eingewanderten Juden, herausbrachte. Die Zeitung berichtete vor allem über die Entwicklung in Palästina und Israel, aber auch über die zerstörten jüdischen Gemeinden und die Überlebenden, die in Europa blieben. Es gelang den Redakteuren leider nicht, die Bedürfnisse der Nachfahren der Eingewanderten angemessen zu rezipieren. Die letzte Ausgabe des Blatts erschien 1983.

Markus Roth schreibt über Israel Kaplan, einen Überlebenden des Ghettos Kaunas, seine Arbeit bei der Jüdischen Historischen Kommission in München und die von ihm initiierte Zeitung Fun letsten Churbn [1], die sich von 1946 bis 1948 die Sammlung und Veröffentlichung wichtiger Dokumente und Zeitzeugenberichte zur Shoa zur Aufgabe gemacht hatte. Markus Roth und Frank Beer haben kürzlich alle Ausgaben der Zeitschrift vollständig für deutsche Leser verfügbar gemacht. [2] Forscher verstehen erst langsam, dass die Geschichte des Zivilisationsbruchs und seiner möglichen Abwendung erst dann umfassend dargestellt werden kann, wenn die Berichte der überlebenden Opfer, soweit vorhanden, mitverarbeitet werden.

Über die sich anschließenden Aufsätze von Andreas Mink, Katja Seybold, Thomas Rahe, Andrea Sinn und von Mitherausgeber Jim G. Tobias sei hier nur so viel gesagt, dass auch sie immer den Bezug zur Gegenwart ihrer Leser im Auge haben. Sie fragen, ob die von ihnen vorgestellten Autoren als "Helden der Feder" gelten können und ob die von ihnen herausgegebenen Zeitschriften tatsächlich "moralische Wegweiser" in schwierigen Zeiten waren.

Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Daniela F. Eisenstein in ihrem Beitrag über das Jüdische Museum Franken und dessen innere Konflikte sowie die Debatten mit seinem Umfeld. Museen zu jüdischer Geschichte müssten in der Bundesrepublik immer wieder auch "Orte konflikthafter Auseinandersetzung mit der kulturellen und politischen Gegenwart" sein, sagt sie, um Identitäten und Narrative "produktiv" in Frage stellen zu können. Wer die Geschichte von Juden in Deutschland umfassend erzählt, kann kaum anders, als Romantisierungen eines angeblich freundschaftlichen Miteinanders von Christen und Juden anzuzweifeln.

Auch ganz in diesem Sinne produktiven Nachdenkens für die Gegenwart haben die Herausgeber sich entschlossen, einen besonderen Aspekt des Massakers der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 in das Jahrbuch aufzunehmen. Verena Buser und Boaz Cohen haben alles zusammengetragen, was heute aus unterschiedlichsten Quellen über Verbrechen der Hamas an israelischen Kindern bekannt ist. Ihr Beitrag berührt dabei die Frage, ob eine Gleichsetzung der Verbrechen der Hamas mit denen der nationalsozialistischen Deutschen angemessen sei.

Die Autorinnen zeigen darüber hinaus, dass die Erfahrungen der Kinder der zweiten und dritten Generation der Shoa-Überlebenden ein großes, produktives Reservoir darstellen, das auch den traumatisierten überlebenden Hamas Kinder-Geiseln eine Chance für ein Leben danach bieten könnte.

Der Stil und die Anlage der im Jahrbuch versammelten Aufsätze schließen an sozialethische Interventionen an, in denen Juden bereits im 19. Jahrhundert ihre Mitmenschen auf voraufgeklärtes Denken und Antisemitismus hinwiesen, aber auch neue Wege zu politischen und sozialen Reformen skizzierten.


Anmerkungen:

[1] Das jiddische Wort "Churbn" bedeutet "Zerstörung". Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges, als der Begriff Shoa noch nicht verwendet wurde, benutzten viele Juden ihn als Bezeichnung für die Shoa.

[2] Frank Beer / Markus Roth (Hgg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift "Fun letstn churbn" der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946-1948, Berlin 2021.

Martin Jander