Rezension über:

Dalibor Havel: Die lateinische Schriftkultur in den böhmischen Ländern bis zum 12. Jahrhundert (= Beihefte zum Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde; Bd. 20), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 607 S., ISBN 978-3-412-52524-8, EUR 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
David Kalhous
Masaryk-Universität, Brno
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
David Kalhous: Rezension von: Dalibor Havel: Die lateinische Schriftkultur in den böhmischen Ländern bis zum 12. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/40063.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Dalibor Havel: Die lateinische Schriftkultur in den böhmischen Ländern bis zum 12. Jahrhundert

Textgröße: A A A

Die erweiterte, ins Deutsche übersetzte Version von Dalibor Havels im Jahr 2018 auf Tschechisch publizierten Werk [1] ist zweifellos ein bedeutender Beitrag nicht nur zur Kulturgeschichte Böhmens im Hochmittelalter, sondern auch zur Geschichte der Schriftkultur im postkarolingischen Europa. Mit dem Werk, das auf seiner jahrzehntelangen Forschung in mitteleuropäischen Bibliotheken beruht, verfolgt Havel zwei Hauptziele: Erstens hat er ein Verzeichnis der Handschriftenfragmente, die bis zum Jahr 1200 in den Bibliotheken und Archiven in Böhmen und Mähren aufbewahrt wurden, vorgelegt. Zweitens hat er seine Beschäftigung mit diesen Manuskripten und Manuskriptfragmenten dazu genutzt, die analytischen Grundlagen für die Untersuchung der Entstehung und Entwicklung der Schriftkultur in den böhmischen Ländern seit dem Ende des 10. Jahrhunderts zu schaffen.

Havel eröffnet sein Buch mit Ausführungen zum Kontext der Schriftkultur in den böhmischen Ländern. Anschließend fasst er die Entstehung und Geschichte der karolingischen Minuskel in informativer Art und Weise zusammen.

Der Katalog der Handschriftenfragmente, ergänzt um eine methodische Einführung und zahlreiche Fotografien, bildet den ausführlichsten Teil der Studie (87-400). Er beinhaltet jedoch nicht sämtliche Handschriftenfragmente, die Havel entdeckt hat. Der Katalog ist nach Aufbewahrungsorten angeordnet, wobei die Bibliotheken in Prag (Praha), Brünn (Brno) und Olmütz (Olomouc) besonders zahlreich vertreten sind. Erleichtert wird dem Leser die Verarbeitung des reichhaltigen Materials durch vier Tabellen, die die Fragmente nach Alter, Aufbewahrungsort, Inhalt und Schrifttyp kategorisieren. Besonders aufschlussreich ist die Einteilung nach dem Inhalt; sie liefert bedeutsame Einsichten zur Logistik der Christianisierung Böhmens und Mährens. Es ist anzunehmen, dass im 9.-11. Jahrhundert eine große Anzahl von Handschriften importiert werden musste, von denen nur einige Zimelien in böhmischen und mährischen Bibliotheken komplett überliefert sind. Leider ist zumeist nicht bekannt, wann die Fragmente und Originalhandschriften nach Böhmen oder Mähren gelangt sind; jedoch bezeugt die Gesamtheit der von Havel gesammelten Beispiele, dass die aus Bayern eingeführten Exemplare, insbesondere die liturgischen Handschriften, eine wichtige Rolle gespielt haben müssen. Meiner Ansicht nach sollte die sorgfältige Auswertung des vom Autor zusammengetragenen Materials und seiner Untersuchungen jetzt zu einem der wichtigsten Forschungsthemen in der böhmischen Mediävistik werden.

Ebenso bedeutsam sind die Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Skriptorien in den Kapiteln III.3 und IV. Schon mehrfach wurde von Mediävisten postuliert, dass es Skriptorien in Böhmen schon im 11. Jahrhundert gegeben habe - insbesondere im Zusammenhang mit dem Bistum und Domkapitel in Prag oder dem Benediktinerkloster Breunau (Břevnov). Diese Annahmen basierten ausschließlich auf der einzelnen kirchlichen Institutionen zugeschriebenen Relevanz und wurden nicht durch Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Paläografie oder Kodikologie gestützt - mit zwei wichtigen Ausnahmen: zum einen durch die Forschungsergebnisse von Miroslav Flodr, Havels Doktorvater, zum Skriptorium des Olmützer Bischofs Jindřich Zdík (1126-1150) und zum anderen durch die Untersuchung von Jiří Pražák zur Prämonstratenser-Kanonie Strahov in Prag. Bevor Havel seine Untersuchungsergebnisse vorstellt, definiert er die beiden Kriterien eines Skriptoriums: eine Gruppe von Schreibern und Kontinuität. Durch seine systematische Untersuchung von Handschriften und ihren Fragmenten kann Havel Gruppen von verwandten Händen auch in Randbemerkungen identifizieren. Ihm gelingt es, die Skriptorien in Breunau (seit den 1040er Jahren) und im Benediktinerkloster Hradisko bei Olmütz (seit den 1140er Jahren) überzeugend nachzuweisen. Ebenfalls anschaulich sind seine Ausführungen zum Prager Bistum und Domkapitel. Obwohl er Schreibertätigkeiten bereits ab den 990er Jahren identifiziert, zögert er, von einem Skriptorium zu sprechen, da der dortige Korpus nicht beide von ihm postulierten Kriterien erfülle. Dies treffe auch auf das zweitälteste Benediktinerkloster in Ostrov in der Nähe von Prag zu.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Buch einen wichtigen Beitrag zu verschiedenen Forschungsfeldern leistet. Besonders hervorzuheben ist die Identifizierung eines großen Korpus von Handschriftenfragmenten sowie von mindestens zwei Skriptorien, was unsere Kenntnisse der Schriftkultur in der postkarolingischen Peripherie wesentlich erweitert. Das Werk präsentiert nicht nur wichtige Ergebnisse auf der Grundlage zuverlässiger Methoden, sondern weist auch auf zahlreiche offene Forschungsfragen hin. Natürlich ist es in vielen Fällen unmöglich zu entschlüsseln, wann einzelne Handschriften nach Böhmen und Mähren importiert wurden. Dennoch kann eine sorgfältige Untersuchung dieser Materie wichtige Erkenntnisse zur Missionspraxis und Kulturgeschichte der postkarolingischen Peripherie liefern. Übrigens haben Havels Ausführungen bereits die slawistische Forschung inspiriert: František Čajka [2] hat kürzlich die direkte lateinische Vorlage für die altkirchenslawische Übersetzung der Homilien Gregors des Großen entdeckt. Dank Havel wissen wir, dass diese lateinische Vorlage in Breunau verwendet wurde. Dieser Umstand bezeugt wiederum, dass lateinisches und altkirchenslawisches Schrifttum nicht zum Banner zweier konkurrierender Gruppen ost- und westorientierter Kleriker wurden, sondern zwei Moden einer Schriftkultur, die sich eine Gruppe von Klerikern teilte, repräsentierten. Es bleibt zu hoffen, dass bald neue Beiträge veröffentlicht werden, die von Havels Buch inspiriert wurden und unsere Kenntnisse über die älteste Schriftkultur in Mitteleuropa oder über die Kirchengeschichte dieses Raumes noch vertiefen.


Anmerkungen:

[1] Dalibor Havel: Počátky latinské písemné kultury v českých zemích: Nejstarší latin¬ské rukopisy a zlomky v Čechách a na Moravě [Die Anfänge lateinischer Schriftkultur in den böhmischen Ländern. Die ältesten lateinischen Handschriften und Fragmente in Böhmen und Mähren], Brno 2018.

[2] František Čajka: Latinský rukopis IV.D.7 břevnovského původu a jeho význam pro studium českocírkevněslovanského překladu Čtyřiceti homilií na evangelia (Besědy na evangelije) [Die lateinische Handschrift IV.D.7 Břevnover Herkunft und ihre Bedeutung für das Studium der tschechisch-kirchenslawischen Übersetzung der 40 Homilien über die Evangelien], in: Slavia 87 (2018), 30-44.

David Kalhous