Gergely Kunt: The Children's Republic of Gaudiopolis. The History and Memory of a Childrens Home for Holocaust and War Orphans (1945-1950), Budapest: Central European University Press 2022, xii + 236 S., ISBN 978-963-386-443-2, EUR 63,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der 1947 unter der Regie von Géza von Radványi gedrehte und 1948 veröffentlichte Spielfilm Valahol Európában (Irgendwo in Europa) ist eine der bekanntesten ungarischen Filmproduktionen. Bereits 1948 wurde er auf dem Internationalen Filmfestival von Locarno für mehrere Kategorien nominiert. Auch heute noch erfreuen sich in Ungarn sowohl der Film als auch die Musical-Variante aus dem Jahr 1995 ungebrochener Popularität, was sich unter anderem darin zeigt, dass der Film bis heute auf der Liste der sogenannten "Budapester 12" (die besten zwölf ungarischen Filme aller Zeiten) steht. Weniger bekannt sind die Hintergründe und die Entstehungsgeschichte, die nun in dem Buch des Historikers Gergely Kunt detailliert vorgestellt werden.
Der Verfasser ist Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Miskolc und ein breit ausgewiesener Wissenschaftler, der bereits mehrere Monografien zu diversen Themen - unter anderem zur Deportation der deutschen Minderheit aus der Region Miskolc in die Sowjetunion 1944/45 [1] - vorgelegt hat. Über viele Jahre hinweg sammelte er Tagebücher aus Nachlässen und aus Privatbesitz und verfasste auf Grundlage dieses speziellen Quellenmaterials Bände über sexuelle Gewalt im Zweiten Weltkrieg [2] und die Erfahrungen von Teenagern während der 1940er Jahre in Ungarn. [3]
In seinem neuen Werk erzählt er eine komplexe Geschichte, die sich in zwei größere Teile gliedern lässt. Die ersten drei Hauptkapitel stellen die Geschichte von "Gaudiopolis" vor. Nach der deutschen Besatzung Ungarns am 19. März 1944 rettete der lutherische Geistliche und Politiker Gábor Sztehlo etwa 1.600 Personen, mehrheitlich Kinder, vor der Verfolgung und Ermordung. Nach dem Krieg gründete er ein Waisenhaus und eine Elementarschule namens PAX für - nicht ausschließlich - jüdische Kinder, die ihre Eltern während des Krieges und der Judenverfolgung verloren hatten. In der Einrichtung in Budapest wurden moderne pädagogische Methoden ausprobiert und praktiziert, die nicht nur zur Aufarbeitung persönlicher Traumata beitragen, sondern den Schülern auch ein zukunftsfähiges Demokratieverständnis beibringen sollten. Dieses Vorzeigeprojekt, in dem die Kinder in einer eigenen Gesellschaft und nach eigenen Gesetzen lebten, wurde "Gaudiopolis" - Stadt der Freude - genannt. Die Jugendrepublik konnte sich jedoch nach einigen Jahren nicht mehr gegen die neu etablierte sozialistische Diktatur wehren. 1950 wurde die PAX-Schule - ebenso wie alle anderen Elementarschulen in Ungarn - verstaatlicht, was dem Projekt ein Ende setzte. Sztehlo und viele Schüler verließen das Land während der darauffolgenden Jahre. Deren Erbe wurde jedoch in Valahol Európában verewigt: Der Film erzählt die Geschichte einer Gruppe von Waisenkindern nach dem Krieg. Ferner wurden frühere PAX-Schüler als Schauspieler miteinbezogen.
Kunt bietet in seinem Buch einen tiefen Einblick in die Entstehungsgeschichte und Tätigkeit des PAX-Projekts, wobei er einen weiteren Fokus auf Sztehlos Lebensgeschichte legt. Seine Ausführungen stützt er auf eine breite Basis von Primär- und Sekundärquellen: Dazu gehören die reich vorhandene administrative Überlieferung aus diversen ungarischen Archiven und Bibliotheken, Sztehlos Memoiren, Pressematerial, die eigenen internen Veröffentlichungen der Schüler von Gaudiopolis und Interviews mit ehemaligen Schülern und Erziehern. Diese Quellengrundlage ermöglicht es, die pädagogischen Praktiken und den Alltag in der Jugendrepublik detailliert darzustellen, wobei einige Elemente - wie die "soziale Ordnung" von Gaudiopolis oder die "Halandzsa-Sprachtherapie" - hervorgehoben und die Publikationen der Kinder (unter anderem eine eigene Zeitung, zumeist mit Nachrichten über das Leben in der Einrichtung und Gedichten der Schülerschaft) näher in den Blick genommen werden. Darüber hinaus analysiert der Verfasser die Zusammensetzung der Schülerschaft nach sozialer Herkunft, Konfession und Geschlecht und verschließt dabei auch nicht die Augen vor kritischen Punkten. So hebt er zum Beispiel hervor, dass unabhängig davon, dass an der ursprünglich nur für Jungen vorgesehenen Einrichtung allmählich auch Schülerinnen aufgenommen wurden, bis sie etwa ein Drittel der Schülerschaft ausmachten, diese bei der Publikationstätigkeit und in den leitenden Positionen der Jugendrepublik durchaus unterrepräsentiert blieben.
Im letzten Hauptkapitel analysiert Kunt den Film Valahol Európában, der eng mit dem PAX-Projekt verbunden war. Mehrere der Kinderschauspieler waren PAX-Schüler. Darüber hinaus arbeitet die Handlung auch die Geschichte von elternlosen Vagabundenkindern auf, die eine eigene Gesellschaft bildeten und eigene Gesetze befolgten. Kunt stellt die Zusammenhänge zwischen dem Film und der PAX-Realität dar und zeigt die Parallelen zwischen einigen Film-Charakteren und realen Personen. Nicht nur die Entstehungsgeschichte des Films wird im Buch erläutert (die Dreharbeiten wurden von der Kommunistischen Partei Ungarns gefördert, weil man hoffte, der Film würde die eigenen ideologischen Inhalte untermauern), sondern auch dessen Wirkung und Folgen. Die fertige Produktion vermittelte nämlich Botschaften von Demokratie, Humanismus, Frieden und Verständigung, die für das neue politische System weniger tragfähig erschienen. Daher wurde der Film während der Jahre des Staatssozialismus aus der offiziellen Erinnerungskultur hinausgedrängt - genauso wie das gesamte PAX-Projekt. Dadurch ist die Geschichte sowohl von Gaudiopolis als auch des Films ein repräsentatives Beispiel für den damaligen Umgang in Ungarn mit der jüngsten Vergangenheit.
Kunt fasst die Fäden dieser komplexen Geschichte auf etwa 200 Seiten verständlich und gut lesbar zusammen. Das Cover - mit einer Karte von Gaudiopolis als Illustration - spricht auch Laien an. Die Studie bietet einen tiefen Einblick sowohl in das konkrete Thema als auch in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte Ungarns. Aktuell, 75 Jahre nach der Veröffentlichung des Films, und zu einer Zeit, in der die Zahl der noch lebenden PAX-Kinder immer kleiner wird, besteht die Gefahr, dass das Projekt in Vergessenheit gerät. Kunt hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sowohl Sztehlos Lebenswerk als auch die Geschichte von Gaudiopolis, trotz aller entgegengesetzten Bemühungen während des Staatssozialismus, aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis übergehen können.
Anmerkungen:
[1] Gergely Kunt / József Kis: Málenkij robot Nagy-Miskolcon [Malenkij Robot in Groß-Miskolc], Miskolc 2020.
[2] Gergely Kunt: Kipontozva ... nemi erőszak második világháborús naplókban [Ausgepunktet ... Vergewaltigung in den Tagebüchern des Zweiten Weltkriegs], Budapest 2019.
[3] Gergely Kunt: Kamasztükrök. A hosszú negyvenes évek társadalmi képzetei fiatalok naplóiban [Jungsspiegel. Gesellschaftsvorstellungen der Jugendlichen in Tagebüchern der langen 1940er Jahre], Budapest 2017.
Beátá Márkus